Der Kuss des Jägers
glich. Von unten
drang Licht herauf, drei helle Flecken wanderten durch die Dunkelheit und
bewegten sich tiefer hinab. Eine rostige Treppe klammerte sich ringsum an die
Wände, führte nach unten und nach oben, wo er nur wenige Meter über sich eine
zugemauerte Türöffnung erahnte. Seit die Polizei verstärkt in das
weitverzweigte Netz aus Schächten und Stollen vordrang, gab es nur noch wenige
offene Zugänge, von denen Jean die meisten zu kennen glaubte. Er wusste, wie
gefährlich es war, sich allein in dieses Labyrinth zu begeben, doch solange
sich dort Satanisten und Dämonen trafen, würde er ihnen folgen.
Die Schritte Sylvaines und ihrer Begleiter hallten metallisch zu ihm
herauf. Wenn sie ihn nicht ebenso hören sollten, musste er die Schuhe
ausziehen. Rasch streifte er sie ab und betrat auf Socken die Stufen, deren
Gitter sogleich in seine Fußsohlen schnitt. Unwillkürlich ging er schneller, um
dem Schmerz davonzulaufen, der auf jeder neuen Stufe wieder auf ihn lauerte.
Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er, so großflächig wie möglich
aufzutreten, doch es hielt ihn zu sehr auf, verlieh seinen Schritten zudem eine
Schwerfälligkeit, unter der die Stufen, auf denen er so plump aufkam, laut
protestierten. Bald spürte er kaum noch etwas, konzentrierte sich stattdessen
darauf, die Lichter in der Tiefe zu beobachten und leise hinabzuhuschen. Minute
um Minute verstrich.
Plötzlich wurde der Schein der drei Taschenlampen nacheinander an
derselben Stelle verschluckt. Offenbar hatten Kafziel und seine Anhänger den
Schacht verlassen. Jean lauschte kurz über seinen Atem in die Dunkelheit. Kaum
hörbare Schritte, die verklangen. Er schaltete die Stirnlampe ein und lief die
Treppe so schnell hinab, wie es ohne Lärm möglich war. Wie tief mochten sie
jetzt unter der Erde sein? Längst waren die gemauerten Wände jenem hellen
Gestein gewichen, aus dem die halbe Stadt errichtet worden war. Der Schacht, an
dessen Grund Jean nun einen Durchgang erspähte, gehörte offenbar zu den
Steinbrüchen, die sich unter Paris verbargen und bis zu den Römern
zurückreichten. Es gab unzählige Kammern, Gänge und sogar regelrechte Säle,
etliche davon weit unterhalb der modernen Versorgungsschächte und Métro-Röhren.
Jean kannte die Gerüchte, dass es in den tiefsten Abgründen ein Tor zur Hölle
geben sollte, aber selbst er hatte es bislang für das Geschwätz von Leuten
gehalten, die sich beim Betreten der Katakomben noch ein bisschen mehr gruseln
wollten. Steckte doch mehr dahinter? Führte Kafziel diese Verblendeten deshalb
hier hinab?
Bevor er den Gang am Boden des Schachts betrat, schaltete er die
Lampe wieder ab. Es war unwahrscheinlich, dass sich jemand umdrehte, aber er
durfte kein Risiko eingehen. Er hatte so weit hineingeleuchtet, wie es ging,
und den Untergrund für sicher befunden, obwohl er mit Pfützen übersät war.
Wieder dauerte es eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt
hatten, doch dann sah er den schwankenden Schein der Taschenlampen vor sich.
Das an den Wänden herabfließende Wasser und die Lachen, in denen es sich
sammelte, glänzten im schwachen Licht und verstärkten es. Erneut lief er
schneller, stieß sich den Scheitel an der rauen Decke und unterdrückte einen
Fluch. Er näherte sich dem Letzten der vier – es schien der Mann zu sein, den
auch Tiévant nicht kannte –, bis er dessen Umriss vor dem Lampenschein sehen
konnte, dann hielt er sich wieder zurück, denn der Fremde zögerte und schien
sich zu bücken, bevor er um eine Ecke verschwand. Als Jean die Stelle
erreichte, ging er in die Knie und wagte, kurz das Licht anzuknipsen. Auf einem
trockeneren Fleck des Gesteins prangte ein weißer, gebogener Kreidepfeil. Wer
auch immer der Kerl war, offenbar wollte er sichergehen, auch ohne Kafziel
zurückzufinden. Umso besser. Es ersparte ihm, eigene
Markierungen anzubringen. Aber wenn dieser Mann dem Dämon nicht vertraute,
warum schloss er sich ihm überhaupt an?
»Bist du sicher, dass ich wegfahren kann, chérie? Deine
Freundin hat schon einmal abgesagt, weil etwas dazwischenkam.«
»Doch, dieses Mal kommt sie ganz sicher«, erwiderte Sophie, obwohl
ein Rest Zweifel blieb. Nach einem solchen Schlag würde sich Lara vielleicht
doch lieber noch etwas tiefer in ihren Kissen vergraben und nichts von der Welt
hören und sehen wollen.
»Also nicht, dass ich nicht gern zum Geburtstag meiner Schwester
schon in Limoges wäre«, gab Madame Guimard zu, »aber du bist immer
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