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Der Kuss des Jägers

Der Kuss des Jägers

Titel: Der Kuss des Jägers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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lächerlicher Bruchteil des unterirdischen Irrgartens.
    Aus Gewohnheit klopfte er sich Staub und Schmutz von den Kleidern,
was die Schlammflecken wenig beeindruckte, aber die anderen Besucher der L’Inconnue würden nicht besser aussehen. Schon hinter der
nächsten Ecke stieß er auf die ersten Feiernden und nahm die Stirnlampe vom
Kopf. Im Licht einer grellen Laterne, die genügte, den ganzen kleinen Raum
auszuleuchten, saßen und lagen junge Leute auf Kissen, Decken und Klappstühlen
herum, quasselten, lachten, hoben grüßend Bierflaschen und Plastikbecher. Die
spezielle Note des Qualms verriet, dass sie nicht nur Tabak rauchten. An den
Wänden prangten bunte Graffiti neben eingeritzten Botschaften. Das Wummern des
Schlagzeugbeats ließ den Boden unter den Füßen vibrieren, E -Gitarren
röhrten dazu, und ein Sänger heulte und brüllte abwechselnd dagegen an, doch es
waren keine Lautsprecher zu sehen. Der Lärm kam von nebenan. Durch den kurzen
Verbindungsgang erhaschte Jean einen ersten Blick auf flackernde Lichter und
Menschengedränge. Der Dämon und Sylvaine waren verschwunden, weder Lilyth noch
Maurice in diesem Raum zu sehen. Er goss sich Wein aus einem Getränkekarton in
einen Becher und nippte daran. Der Rosé schmeckte so billig, wie er erwartet
hatte, aber der Durst brachte ihn dazu, einen größeren Schluck zu nehmen. Auf ins Getümmel.
    Eingehend musterte er die Menge, während er sich in den
unterirdischen Saal nebenan schob. Unter einem an die Felswand projizierten
Bild der Totenmaske von L’Inconnue hatte eine Band
ihre Instrumente und Verstärker aufgebaut und beschallte die Tanzenden, die
direkt davor in einem großen Knäuel umherwogten. Mit ihren wilden Frisuren, den
Sonnenbrillen und schwarzen T -Shirts bildeten die
Musiker einen seltsamen Kontrast zum entrückten Lächeln der unbekannten Toten
über ihnen. Jean bahnte sich seinen Weg zwischen schwarz gewandeten Gothicfans
und auffallend normal gekleideten Leuten hindurch. Ein paar abenteuerlustige
Jugendliche schlugen über die Stränge, misstrauisch beäugt von vereinzelten
Clochards, die im Untergrund hausten, weil sie hier niemand vertrieb. Unstete
Schatten und Lichteffekte erschwerten es ihm, Gesichter zu erkennen. War das
nicht Maurice? Der dürre junge Mann drehte sich nach einem Freund um, der ihm
eine Bierflasche reichte. Nein, der Kerl war älter und sah zu freundlich aus.
    Es gab noch mehr Ein- oder Ausgänge, je nach Perspektive, und
demnach weitere Nebenräume, in denen sich Lilyth aufhalten konnte. Jean schlug
die Richtung zum nächstgelegenen ein, während um ihn herum Applaus aufbrandete,
als das Lied zu Ende ging. Der Frontmann der Band nuschelte eine Ansage auf
Englisch in das Johlen und Pfeifen, dann dröhnten die ersten Takte eines neuen
Songs durch die steinerne Halle.
    Da ist sie! Er wollte den Saal gerade
verlassen, als er sie aus dem Augenwinkel an der Wand sitzen sah. »Lilyth!« Mit
drei Schritten war er dort und ging vor ihr in die Hocke. Große, ein wenig
glasige Augen blickten ihn an. Es dauerte einige Sekunden, bis sich Erkennen
darin zeigte.
    »Lilyth, geht’s dir gut?« Er streckte die Hand nach ihrem Arm aus,
doch sie schlug ihn weg. Der übliche klimpernde Schmuck um ihr Handgelenk
fehlte. Stattdessen trug sie einen fleckigen Verband.
    »Was willst du?« In dem Lärm waren ihre Worte nur zu erraten. Das
schwarz gefärbte Haar, das am Scheitel bereits dunkelblond nachwuchs, hing ihr
so strähnig ums Gesicht, als hätte sie es seit dem Krankenhaus nicht gewaschen.
Auch ohne Kajal hoben sich dunkle Ringe um ihre Augen von den bleichen Wangen
ab.
    »Ich hab nach dir gesucht«, rief Jean, um die Musik zu übertönen.
»Du bist immer noch in Gefahr. Komm mit mir!« Erneut griff er nach ihr, aber
sie wich mit einer abwehrenden Geste aus und stemmte sich auf die Beine, wobei
sie sich an der Wand abstützte.
    »Verpiss dich! Tausend Mal hab ich dich angerufen, aber immer war
die bescheuerte Mailbox dran!«
    »Ich war …« Aber vielleicht war es nicht die beste Idee, das
Gefängnis zu erwähnen.
    »Haben sie dich geschickt, damit du mich in diese Klapse bringst?
Vergiss es!« Angst und Wut verzerrten ihren Mund. Ohne schwarze Schminke
wirkten ihre Lippen voller, doch sie sahen spröde und rissig aus. Sie wich vor
ihm zurück, was unweigerlich Blicke auf sie zog.
    »Lilyth, ich will dir nur helfen. Erinnerst du dich?« Er deutete auf
seinen eigenen Verband, an dem Roststückchen und grauer Schmutz klebten.
    Sie

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