Der Kuss des Jägers
Er
könnte diesen Kerl umgebracht haben, um mich zu retten. Die stecken ihn zwanzig Jahre in den Knast.
Die Tasche mit den Büchern, die Alex ihr mitgegeben hatte,
machte das Treppensteigen in den stickigen vierten Stock zu einer noch
schweißtreibenderen Angelegenheit. Nachdem sie ihm die ganze Geschichte erzählt
hatte, war er besorgter um Jean gewesen denn je, aber auch um sie. Bereitwillig
hatte er ihr etliche Schriften geliehen, in denen etwas über Dämonenabwehr zu
finden war, doch sein Blick hatte Bände gesprochen. Sie hatte Blut für Kafziel
vergossen – und Blutmagie war die mächtigste von allen.
Er ist kein Experte. Das hat er selbst gesagt, versuchte sich Sophie zu trösten und schloss die Wohnungstür auf. Stimmen und
das Klappern eines Löffels in einer Tasse drangen ihr aus dem Salon entgegen.
Sie spitzte die Ohren, während sie noch die Schuhe auszog, da kam auch schon
ihre Mutter in den Flur geeilt.
»Sophie, Kind, wo hast du so lange gesteckt? Hier …«
»Mama, könntest du endlich aufhören, mich ›Kind‹ zu nennen? Ich bin
erwachsen.«
Ihre Mutter zog eine säuerliche Miene. »Trotzdem bist du immer noch mein Kind.«
Du meinst, dass ich immer noch deine Tochter bin. Sie verdrehte die Augen, sparte sich jedoch die
Diskussion, die sie schon so oft geführt hatten.
»Gut, dass du endlich da bist. Die Anwältin dieses jungen Mannes,
der dich gerettet hat, ist hier. Eine sehr nette Frau. Sie spricht sogar
Deutsch.«
Geneviève ist hier? Die Tasche, die sie
eben noch als erstes in ihr Zimmer hatte bringen wollen, glitt ihr wie von
selbst von der Schulter. Wenn sie Jeans Andeutung am Telefon richtig verstanden
hatte, würde es sie nicht wundern, falls diese Anwältin auch Burmesisch und
Suaheli beherrschte. Neugierig und gehemmt zugleich näherte sie sich der Tür
zum Salon.
Zunächst sah sie nur ihren Vater, der etwas steif auf Madame
Guimards altmodischem samtbezogenem Sofa saß. Mit fasziniertem Blick lauschte
er der Frau auf dem Sessel zu seiner Linken, obwohl sie gerade auf Französisch
zu der alten Dame sprach, deren Gesicht einen fast schon entrückten Ausdruck
angenommen hatte. In den Augen eines oberflächlichen Betrachters schienen die
Sonnenstrahlen Genevièves Erscheinung den lichten Schimmer zu verleihen, der
sie umgab. Doch Sophie sah, dass sie nicht bis zu Genevièves Platz reichten.
Langes, blondes Haar umrahmte ein makelloses Gesicht. Das einer Anwältin gemäße
Kostüm und die seidig glänzende Bluse unterstrichen nur die Eleganz der
schlanken Gestalt. Als sie Sophie bemerkte, erhob sie sich mit einer so
fließenden Bewegung, dass es vollkommen mühelos erschien.
Bin ich die Einzige, die sehen kann, dass ihr
inneres Licht jeden Augenblick durch ihre Haut zu leuchten droht?
»Sophie Bachmann?«
Es klang nicht wie eine Frage, und sie glaubte keine Sekunde, dass
Geneviève daran zweifelte, wen sie vor sich hatte. Im Stehen zeigte sich, dass
sie erstaunlich groß war und dem ersten Eindruck zum Trotz breite Schultern
hatte. Schultern, die das Schwert der Rache schwingen konnten.
»Mein Name ist Geneviève des Anges.«
Sophie ergriff die gereichte Hand und spürte eine Ahnung des
Gefühls, das Rafes Berührung neuerdings in ihr weckte, eine Andeutung der
überwältigenden, alles Schlechte negierenden Liebe.
»Ich bin in meiner Eigenschaft als rechtliche Vertreterin meines Mandanten
Jean Méric hier. Wäre es wohl möglich, dass wir uns einmal unter vier Augen
unterhalten?«
»Selbstverständlich, Madame«, ließ sich Madame Guimard vernehmen und
stand auf, um Sophies Eltern höflich, aber bestimmt aus dem Zimmer zu treiben,
bevor sie die Tür hinter sich zuzog.
»Ist Jean verletzt? Geht es ihm gut?« Sophie suchte in den
bernsteinfarbenen Augen des Engels nach einem Anzeichen dafür, dass er ihr
womöglich etwas verschwieg.
Geneviève legte ihr die Hand auf den Arm, und ein wenig mehr der beruhigenden
Kraft floss ihr zu. »Er ist nicht unversehrt, aber mach dir darüber keine
Sorgen. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Mehr können wir zurzeit
nicht erwarten.«
Sie nickte ergeben. Jean, der rastlose Freigeist, war sicher der
Letzte, der sich in einer Gefängniszelle wohlfühlen konnte. »Halten sie ihn zu
Recht fest? Hat er … Hat er es getan?«
»Caradec getötet? Nein. Diese Prüfung wurde ihm nicht auferlegt. Der
Paktierer hat sich selbst gerichtet, indem er den Pakt gebrochen hat. Sein Tod
war die Strafe des Dämons für den
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