Der Kuss des Jägers
gehetzt. Finden Sie das nicht selbst etwas … undankbar?«
Sophie schluckte, um ihre trockene Kehle zu befeuchten. »Ich … ich
musste ihn nennen. Ohne Zeugen glauben mir die Ermittler nicht, was passiert
ist.«
»Das ist vermutlich bedauerlich für Sie, aber Ihre Schwierigkeiten
gehen weder mich noch meinen Schwager etwas an. Ich dulde nicht, dass die Flics
in den Angelegenheiten meiner Familie herumschnüffeln, und noch weniger dulde
ich, dass jemand meine Familie bei ihnen anschwärzt.« Er kam näher und fasste
sie schärfer ins Auge. »Sie werden Ihre Aussage widerrufen! Sie werden sagen,
dass Sie gelogen haben und mein Schwager an jenem Abend nicht anwesend war.«
Gournay nimmt mir das niemals ab. Ich büße meine komplette Glaubwürdigkeit ein. »Aber das …«
Die Ohrfeige kam so schnell, dass sie in Antoines Griff nicht
ausweichen konnte. Vor Schreck schrie sie auf. Der Schlag, obwohl offenbar nicht
mit voller Kraft ausgeführt, riss ihren Kopf zur Seite und ließ eine brennende
Wange zurück. Instinktiv legte sie die Hand darauf, schweifte ihr Blick Hilfe
suchend durch den Raum. Betreten fingerte Arnaud an seinem Taschentuch herum,
während der andere das Geschehen ungerührt beobachtete.
»Sehen Sie mich an!«, befahl der Patron. »Sie werden tun, was ich
Ihnen sage, sonst könnte Ihnen oder der alten Dame etwas zustoßen, und das
wollen wir doch alle vermeiden, nicht wahr?«
Sie nickte nur. Ein Teil von ihr wusste nicht, ob er lachen oder
weinen sollte. Erst Kafziel, und nun auch noch ein Boss der handfesteren
Unterwelt. Hysterisches Kichern stieg in ihr auf, doch die Angst vor weiteren
Schlägen rang es nieder.
»Erzählen Sie der Polizei, Sie hätten meinen Schwager nur erwähnt,
um sich an ihm zu rächen. Wofür, stelle ich Ihrer eigenen Phantasie frei,
solange es nur die Bullen nicht interessiert.«
Die Limousine hielt an der belebten Kreuzung der
Boulevards Saint-Germain und Saint-Michel. Im ersten Augenblick glaubte Sophie,
dass eine weitere rote Ampel die einzige Ursache sei, doch als Antoine die Tür
öffnete, um sich aus dem Wagen zu schwingen, erwachte sie aus ihrer Starre.
»Los, raus!«, schnauzte er sie an und tappte in hektischem Rhythmus
mit der Fußspitze auf den Asphalt.
Hastig rutschte sie über die Rückbank.
»Man sieht sich!«, rief Linot ihr nach und lachte dreckig, während
sie aus dem Wagen sprang.
Ohne sich noch einmal umzusehen, lief sie davon, erst eilig, dann
langsamer, als sie merkte, dass sie Blicke auf sich zog. Unwillkürlich strich
sie über die misshandelte Wange. Hatte der Patron sie fest genug geschlagen, um
eine Rötung zu hinterlassen? Sahen die Leute sie deshalb so an? Im Auto war sie
wie betäubt gewesen, unfähig, etwas zu denken oder zu fühlen. Wie versteinert
hatte sie darauf gewartet, dass die Sache irgendwie zu Ende ging. Jetzt kehrte
die Angst zurück, die ohnmächtige Wut, die Verzweiflung. Ihre Augen wurden
feucht, doch auf der Straße wollte sie nicht in Tränen ausbrechen. Sie kämpfte dagegen
an, würgte den Kloß in ihrem Hals hinunter und setzte mechanisch einen Fuß vor
den anderen.
Wenn sie ihre Aussage zurückzog, schadete sie Jean. Die Ermittler
würden alles infrage stellen, was sie gesagt hatte, und anzweifeln, ob es den
Mann, der sie angeblich töten wollte, tatsächlich gab. Womöglich machte Gournay
Ernst und verhaftete sie. Aber wenn sie es nicht tat, würde der Patron seine
Drohungen wahr machen. Sie hatte die skrupellose Härte in seinen Augen gesehen.
Madame Guimard war so alt und so zierlich gebaut. Antoine musste sie nur eine
Treppe hinunterstoßen, und schon konnte es mit ihr vorbei sein. Eine zynische
Stimme flüsterte ihr ein, dass es gleich war, ob sie an einem gebrochenen
Genick oder einem Schnitt durch die Halsschlagader starb, was Kafziel
bevorzugen würde.
Sie unterdrückte ein Schluchzen und überquerte die Rue
Saint-Jacques, ohne auf den Verkehr zu achten. Hupend zischte ein Auto an ihr
vorbei, was ihr nur noch mehr Tränen in die Augen trieb. Rafe. Sehnsüchtig zog sie ihr Handy aus der Tasche. Sie mussten sich treffen, mussten
gemeinsam überlegen, wie sie diese neue Gefahr abwenden konnte, ohne Jean im
Stich zu lassen.
Den Hilferuf zu tippen, hätte weniger Zeit erfordert, wenn sie
stehen geblieben wäre, doch die fremden Menschen, die ihre verräterisch
verzogene Miene beäugten, trieben sie nach Hause. Sie wollte sich diesen
Blicken entziehen, sich in eine Ecke setzen und nichts mehr hören und
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