Der Kuss des Jägers
erschrak.
Jemand stand so dicht neben dem Türrahmen, dass sie im ersten Moment
nur die breite Brust im weißen T -Shirt vor sich
sah. Aus Reflex zuckte sie zurück, obwohl ein Teil von ihr Rafe bereits
erkannte. Erleichtert hob sie den Blick zu seinem vertrauten Gesicht. Von
selbst fand ihre Hand die seine, die er nach ihr ausgestreckt hatte, um sie
lächelnd weiter von der Tür wegzuführen. In seiner Umarmung floss die Macht des
Engels in sie über und löste die Angst, die ihr seit Tagen in den Knochen saß.
Sie versuchte, nicht zu denken, ihre Zweifel an seiner Liebe zu vergessen und
sich fallen zu lassen. Er war hier und hielt sie. War das nicht alles, was
zählte? Sie barg die Nase an seinem Hals, nahm den Geruch seiner Haut in sich
auf, der die Erinnerung an frühere Umarmungen wachrief. Wie von selbst suchten
ihre Hände sein Haar, um sich darin zu vergraben. Sein Körper fühlte sich warm
an, stark und lebendig, und weckte den Wunsch, ihm noch näher zu sein.
Als seine Lippen ihre Schläfe streiften, hob sie den Kopf, um ihn
anzusehen. Was fühlte er? In seiner Umarmung spürte sie kein Begehren. Aus
seinem Blick sprach eine so zärtliche Liebe, dass sie glaubte, ihr Herz müsse
schmelzen. Behutsam, fragend küsste sie ihn. Er erwiderte den Kuss beinahe ebenso
tastend. Sie forderte mehr, er gab nach, doch es lag keine Leidenschaft darin.
Enttäuscht löste sie sich von ihm. Noch nie hatte sie sich ihm
aufdrängen müssen. Rasch überspielte sie die aufkeimende Scham mit dem
erstbesten Satz, der ihr einfiel. »Der Patron vermisst dich.«
Rafe schüttelte den Kopf. »Er vermisst einen Mann, den es immer nur
in seiner Einbildung gegeben hat. Ich … Gadreel war
gut darin, die geheimen Wünsche der Menschen zu bedienen. Ein anderer wird
seinen Platz einnehmen.«
Ein anderer Dämon. Sie nickte stumm und
wusste nicht, warum sie es erwähnt hatte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte
dem Patron noch einiges mehr fehlen dürfen – inklusive der Hand, mit der er sie
geschlagen hatte.
Rafe streichelte die Wange, auf der keine Spur zurückgeblieben war.
»Es tut mir leid, dass mir nicht vergönnt war, dich vor dieser Erfahrung zu
bewahren. Schließlich habe ich dich in diese Kreise
gezogen. Aber Rachsucht und schlechte Gedanken machen es nicht ungeschehen und
binden dich nur enger an diese Leute.«
War das so? Er musste es wissen. »Ich hoffe, dass ich sie jetzt für
immer los bin. Gournay hat mir nicht verraten, was für einen Handel er Arnaud
vorschlagen will, aber ich hatte den Eindruck, dass er alles unterlassen wird,
was mich in Gefahr bringen würde.«
»Du kannst ja auch nicht erwarten, dass er dir auf die Nase bindet,
wenn er womöglich etwas vom legalen Ermittlungspfad abweicht«, meinte Rafe
schmunzelnd.
»Nein, wohl kaum. Trotzdem würde ich gern wissen, was er im Sinn
hat. Ich fürchte neue unangenehme Überraschungen.«
»Leider gehört es nicht zu meinen Gaben, in die Zukunft zu blicken.«
»Aber man muss nicht hellsehen können, um zu wissen, welche Folgen
mein Rückzieher für Jean haben wird.« Sie merkte, wie ihre Stimme zittrig
wurde, und wunderte sich. Doch sie fühlte sich so hilflos und schuldig. Ganz
gleich, was sie versucht hatte, es gelang ihr nicht, Jean zu entlasten.
»Nachdem Arnaud ausfällt, wird es keinen Zeugen geben, der meine Aussagen
bestätigen kann. Von den anderen habe ich höchstens Vornamen nennen können. Die
Polizei wird sie niemals finden!«
»Ich weiß. Du solltest die Hoffnung aber nicht aufgeben, denn du
unterschätzt ihre Möglichkeiten. Trotzdem sieht es nicht gut für ihn aus, und
das ist auch meine Schuld, weil ich mich Gadreels Verantwortung bislang nicht
gestellt habe.«
»Was meinst du damit?«
»Jean hat mich lediglich zu dem Paktierer geführt. Alles, was danach
geschah, war mein Werk. Ich habe die Tür geöffnet und die Frau aus dem Weg
gestoßen und eingeschlossen. Die Blutergüsse, die die Obduktion ergeben hat,
sind entstanden, als ich Caradec mit seinen eigenen Büchern steinigte. Ich habe ihn gequält, bis er gegen seinen Pakt verstieß.
Nur deshalb hat Kafziel ihn getötet.«
Sophie versuchte, sich vorzustellen, wie er all dies tat. Es gelang
ihr nicht, und doch glaubte sie, dass er die Wahrheit sagte. Dankbarkeit
mischte sich in ihr Entsetzen. Dankbarkeit für ihre Rettung – und dafür,
endlich zu wissen, welcher Preis dafür gezahlt worden war. »Das hast nicht du
getan, sondern Gadreel.«
»Die Frage, die mich umtreibt, ist, was ich
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