Der Kuss des Jägers
eine geschlossene Anstalt? Kafziel würde
Sophie töten und Lilyth sich selbst. »Verflucht, Geneviève! Ich muss hier
raus!«
D u willst arbeiten – am
Sonntag?« Madame Guimard sah sie über die Zeitung hinweg an, die ihr auf den
Schoß gesunken war, als Sophie ihren Entschluss verkündet hatte, in den Laden
zu gehen.
»Nur ein paar Sachen ausmessen.« Demonstrativ winkte Sophie mit dem
Zollstock, um ihn dann in ihre Tasche zu stecken.
»Nach der ganzen Aufregung gestern? Du solltest dir mehr Ruhe
gönnen.«
»Ich weiß. Aber mir fällt die Decke auf den Kopf.« Zumindest hatte
sie den halben Vormittag dieses Gefühl gehabt, weil sich ihre Gedanken ständig
im Kreis drehten und kein noch so spannendes Buch sie abzulenken vermochte. Zu
viel war am Vortag geschehen, und sie brannte darauf, mit Rafe darüber zu
sprechen. Er hatte zwar abends auf ihre SMS geantwortet und noch ein Treffen vorgeschlagen, doch sie war zu erschöpft
gewesen, um die Wohnung wieder zu verlassen. Allmählich wünschte sie, Madame
Guimard wäre doch abgereist. Was Rafe anging, hätte es vieles einfacher
gemacht.
»Hoffentlich hat die Polizei dieses Mal ein wachsameres Auge auf
dich«, meinte die alte Dame bissig. Es hatte sie sehr empört, dass ihr
Schützling vor der Nase der Ermittler gekidnappt worden war, und Sophie hatte
gehört, wie sie Gonod deshalb am Telefon beschimpft hatte, der so unvorsichtig
gewesen war, ihr seine Nummer zu geben.
Sophie lächelte schief. »Ich glaube, so etwas lassen sie nicht zwei
Mal auf sich sitzen. Außerdem hat dieser Mann jetzt keinen Grund mehr, mich zu
bedrohen.« Dass auch Madame Guimard in sein Visier geraten war, hatte sie ihr
lieber verschwiegen, denn wenn Gournay sein Versprechen einhielt, sollte die
Gefahr ausgestanden sein.
Obwohl sie recht sicher war, vorerst keinen weiteren Übergriff durch
Jaussins Handlanger befürchten zu müssen, drehte sie sich unterwegs nach jedem
Auto um, dessen Motorengeräusch an ihr Ohr drang. Sie kniff die Augen zusammen,
um die Fahrer zu erkennen, musterte jeden Passanten, der aus der Ferne
Ähnlichkeit mit Antoine oder Linot hatte. Manchmal glaubte sie, in einem der
Fußgänger oder Radfahrer einen Ermittler vor sich zu haben, doch der Weg war zu
kurz, als dass sie es mit Gewissheit hätte sagen können. Unbehelligt erreichte
sie den Laden und schloss sich ein.
Die Geräusche des Schlüsselbunds, das Knistern der Plastikfolie, ja
selbst ihr Atem schien in dem leeren Raum widerzuhallen. Wie sicher konnte sie
sein, dass die SMS dieses Mal von Rafe gekommen
war? Womöglich konnte Kafziel ihre Nachrichten abfangen. Bei der Erinnerung an
seinen Hinterhalt schlug ihr Herz rascher. Dass sie Gänsehaut bekam, lag nicht
nur an der kühleren, dumpfen Luft. Warum musste es in diesem Laden immer so
unnatürlich still sein? Wohnte niemand nebenan oder im Stockwerk darüber? Oder
waren die Wände des alten Hauses so dick?
»Rafe?« Sie wagte nicht, die Stimme zu heben. Ein Verfolger konnte
direkt neben dem Schaufenster stehen und lauschen. Zögernd tappte sie über die
farbgesprenkelte Folie auf das Hinterzimmer zu. »Rafe, bist du da?«
Eine Hand tauchte kurz im Durchgang auf und bedeutete ihr, näher zu
kommen. »Du wirst beobachtet«, flüsterte jemand so leise, dass sie die Stimme
nicht erkennen konnte.
Ohne darüber nachzudenken, sah sie sich um. Von der anderen
Straßenseite blickte eine Politesse herüber, obwohl sie vorgab, sich mehr für
ein geparktes Auto zu interessieren, hinter dessen Windschutzscheibe sie gerade
einen Zettel klemmte. Schnell drehte sich Sophie wieder um. Unauffällig
bleiben!, ermahnte sie sich und atmete tief durch. Am besten spielte sie
der Fremden erst einmal Theater vor, um jeden Verdacht zu zerstreuen. Innerlich
seufzend stellte sie ihre Tasche auf dem Tresen ab und holte Zollstock, Papier
und Bleistift hervor. Eine Weile beschäftigte sie sich damit, den Raum und das
Fenster auszumessen, doch stets war ihr dabei die offene Tür in ihrem Rücken
bewusst, hinter der Rafe – oder Kafziel – sie erwartete. Sie glaubte, einen
Blick auf sich zu spüren, obwohl es durch die Wand nicht möglich war.
Endlich schlenderte die Politesse weiter. Für den Fall, dass sie
zurückkam und aus der Nähe hereinlugte, ließ Sophie Tasche und Inhalt auf der
Theke liegen, als sei sie nur rasch nach hinten gegangen, um etwas zu holen.
Noch immer zauderte sie, durch die Tür zu gehen. Angespannt beugte sie sich
vor, spähte um die Ecke und
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