Der Kuss des Jägers
getan hätte. Aber mir fehlt deine menschliche Fähigkeit, darüber nachzusinnen.
Ich kann nicht grübeln und abwägen und zweifeln. Ich bin nur verwirrt und weiß
nicht, ob ich je wieder so klar sehen werde wie vor meinem Fall.«
Wie konnte man nicht ständig zweifeln und über die Wendungen des
Schicksals rätseln? Sich diesen Zustand vorzustellen, überforderte sie, sodass
sie nichts zu erwidern wusste.
»Wie dem auch sei.« Entschlossenheit trat in Rafes Züge. »Es ist nicht
gerecht, wenn Jean für Taten bestraft wird, die ein anderer begangen hat. Es
gibt nur einen Weg, das zu ändern. Ich muss mich der Polizei stellen.«
Ein breites Lächeln stahl sich auf Sophies Gesicht, als
auf dem Bildschirm vor ihr eine Kollektion von schwarz-weißen Fotografien
erschien. Wer auch immer mich gerade observiert, glaubt
bestimmt, ich hätte eine Mail von Rafe bekommen. Sie ging ganz
selbstverständlich davon aus, dass sie selbst hier im Internetcafé beschattet
wurde. Vielleicht würde es bald damit vorbei sein, wenn Rafe erst verhaftet
worden war. Ob er sich schon im Justizpalast befand? Gournay und seine Leute
würde es vermutlich umhauen, dass er einfach so in ihr Hauptquartier spazierte.
Sie war selbst wie vor den Kopf geschlagen gewesen, als er ihr sein Vorhaben
eröffnet hatte. Vor Überraschung und Sorge hatte sie nicht gewusst, was sie
davon halten sollte.
»Äh, wenn Sie den Platz nicht mehr brauchen …«
»Was?« Erstaunt sah sie zu einem jungen Mann auf, dessen großer,
vollgestopfter Rucksack ihn als Tourist auswies. »Oh, nein, tut mir leid, es
dauert noch einen Moment.« Schuldbewusst richtete sie ihre Aufmerksamkeit
wieder auf die Fotos von Louise Brooks. Mit ihrem Bubikopf und den langen
Perlenketten war die Schauspielerin der Inbegriff des Stils der wilden 20 er-Jahre. Auf jedem der Bilder sah sie perfekt aus, eine
wahre Ikone ihrer Zeit – und damit genau, was Sophie gesucht hatte. Die
ausgeblichenen alten Aufnahmen, die in Madame Guimards Laden gehangen hatten,
mussten dringend durch neue, am besten gerahmte Poster ersetzt werden, um die
Mode der Roaring Twenties und der 30 er-Jahre
angemessen in Szene zu setzen. Sie hatte bereits zwei Fotos von Errol Flynn und
Maurice Chevalier in den virtuellen Warenkorb geworfen, auf denen die Herren
nicht nur sehr attraktiv aussahen, sondern auch ihre geschmackvolle Kleidung
gut zur Geltung kam, und für die Damenmode der 20 er-Jahre
gab es kein besseres Motiv als Louise Brooks. Doch wer sollte die 30 er repräsentieren?
Während sie sich durch die zahllosen Bilder klickte, drifteten ihre
Gedanken zu Rafe zurück. Natürlich hatte er recht damit, dass sie sich um ihn
keine Sorgen machen musste. Kein irdisches Gefängnis vermochte einen Engel
länger festzuhalten, als es ihm gefiel. Die paar Unannehmlichkeiten standen in
keinem Verhältnis zu Jeans hoffnungsloser Lage. Sie war Rafe sehr dankbar, dass
er versuchte, den Großteil der Schuld auf sich zu nehmen. Es änderte nichts
daran, dass Jean als Mittäter verurteilt werden würde, aber …
Da! Bette Davis im Jahr 1933 . Sie trug ein Abendkleid mit extravagantem Ausschnitt
und sah hinreißend aus. Oder doch lieber die Diva
schlechthin? Der Glockenhut stand Greta Garbo ausgezeichnet, aber vielleicht
war er doch zu sehr 20 er, obwohl die Aufnahme aus dem
Jahr 1931 stammte. Sophie beschloss, beide zu nehmen,
wenn sie nichts Überzeugenderes mehr fand, und klickte weiter. Im Internet zu
surfen, war eine angenehme Abwechslung zu Egon von Petersdorffs »Dämonologie«,
in der sie den ganzen Vormittag gelesen hatte. Das umständliche Geschwafel des
Autors hatte sie bald nicht mehr ertragen. Alles Unheil führte er auf
dämonisches Wirken zurück, jede nicht-katholische Religion war für ihn durch
Dämonen verfälschte Offenbarung. Wenn jemals der Begriff »besessen« auf
jemanden zugetroffen hatte, dann auf diesen deutschen Offizier, der mit
preußischer Gründlichkeit die gesamte Weltgeschichte umdeutete. Und über einen
Schlüssel hatte sie bis jetzt nicht einmal eine Andeutung entdecken können.
In ihrer Tasche klingelte das Handy. Hastig wühlte sie es hervor und
warf dem jungen Reisenden, der noch immer auf einen freien Platz wartete, einen
entschuldigenden Blick zu. »Lara? Hi! Du, kann ich dich gleich zurückrufen? Ich
muss hier schnell noch eine Bestellung abschließen.«
»Äh, ja, okay. Aber meine Mittagspause ist nicht ewig.«
»Dauert wirklich nicht lang. Bis gleich!« Sie ignorierte, dass der
Akku
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