Der Kuss des Jägers
ein zynisches Lächeln nicht verkneifen. Auf diese
Anklage gab es keine sinnvolle Antwort. »Und wo ist dieser Mann dann jetzt?
Ihre Kollegin hat doch die Tür gesichert, bis Sie kamen, um alle Zimmer zu
durchsuchen.« Und in jeden Schrank und hinter jeden Vorhang
zu sehen. Als hätte sie einen weiteren Liebhaber versteckt.
»Ich hatte gehofft, dass Sie uns diese Frage beantworten können.«
»Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Meines Wissens hat sich
niemand aus einem Fenster abgeseilt oder sich in den Tod gestürzt. Welche
Möglichkeiten, aus dieser Wohnung zu entkommen, fallen Ihnen noch ein?«
Er zuckte die Achseln. »Habe ich eine kriminelle Phantasie? Fakt
ist, dass eine sehr glaubwürdige Zeugin die Stimme eines Mannes gehört hat –
mehrfach! Das kann ich nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Was ist
denn aus Ihrer Sicht in den Minuten vor … ›dem Knall‹ geschehen?«
»Ein Dämon hat mich bedroht, und ich habe ihm gesagt, er soll sich
zum Teufel scheren.«
Gonod bekam einen Hustenanfall, doch bis Sophie den Blick auf ihn
gerichtet hatte, ließ sich nicht mehr sagen, ob er damit ein Lachen
überspielte. Er hielt die Hand vor den Mund und die Augen auf den Boden
gerichtet.
Sein Vorgesetzter sah sie an, als hätte er nicht die leiseste
Ahnung, ob sie ihn auf den Arm nahm oder einfach nur verrückt war. »Sie, äh,
sollten vielleicht weniger von diesen Büchern lesen.«
Schritte auf der Treppe kündigten das Eintreffen der Spurensicherung
an.
»Nun gut. Hier werden Sie jedenfalls nichts von diesem Schund
mitnehmen«, stellte Lacour fest. »Ich erkläre diese Wohnung zum Tatort, und
wenn es nur für Brandstiftung ist, und damit wird sie versiegelt.«
Wetterleuchten flackerte über den kleinen Ausschnitt des
Himmels, den Jean durch sein vergittertes Fenster sehen konnte. Irgendwo ging
ein schweres Gewitter nieder, doch es war zu weit entfernt, um den Donner zu
hören. Obwohl es nachts für gewöhnlich abkühlte, war es immer noch schwül in der
Zelle. Auf der Suche nach Kälte lehnte er sich gegen die Betonwand, die ebenso
zu schwitzen schien wie er. Vergeblich hatte er versucht zu schlafen. Raphael
würde bald kommen, um zu fragen, wie er sich entschieden hatte, und er kannte
die Antwort immer noch nicht.
In der vergangenen Nacht war ihm die Wahl einfach erschienen. Wer
hätte nicht aus dem Knast gewollt? Sein Leben war hier in Gefahr, aber selbst
wenn es nicht ganz so dramatisch kam, würde ihn ein ständiges Spießrutenlaufen
durch Provokationen, Schläge und vielleicht Schlimmeres erwarten. Diese Anstalt
atmete Gewalt und Verrohung, angeheizt durch Dämonen, die mit den Labilen und
Frustrierten ihre Spielchen trieben.
Dass Raphael ihm die Chance bot zu entfliehen, war das Mindeste, was
er für ihn tun konnte. Er hat alles bekommen, und ich nur
die Strafe. Der Engel war erlöst worden, und für Sophie gab es keinen
Grund mehr, sich von ihm fernzuhalten. Jean ließ den Hinterkopf gegen die Wand
kippen. Der Schmerz des Aufpralls war ihm willkommen. Er musste endlich
aufhören, sich damit zu quälen, dass er niemals so heldenhaft und makellos sein
und Sophie ihn deshalb niemals in Betracht ziehen würde.
Es gab genug andere Gründe, aus dem Gefängnis zu fliehen. Nicht nur sein Leben war in Gefahr. Er musste auch an Lilyth denken
und nicht zuletzt Kafziels Pläne durchkreuzen. War es so etwas wie Schicksal
oder Vorsehung, dass der Engel ihn vor die Wahl stellte? Gab es keinen anderen,
der Lilyth helfen und nebenbei die Welt vor der Rückkehr der Wächter retten
konnte? Hybris! , mahnte ihn eine innere Stimme. Wer bin ich, dass ich wage, mich für unersetzlich zu halten? Er erinnerte sich daran, dass er es gewesen war, der
Sophies Leben aus Eifersucht aufs Spiel gesetzt hatte. So kompromisslos, wie er
stets geglaubt hatte, stand er wohl doch nicht auf der Seite des Guten.
Ich bin einfach schon zu lange allein. Was
unterschied sein Leben denn vom Zölibat, den er so verteufelt hatte? Der
gelegentliche One-Night-Stand ohne schlechtes Gewissen – für mehr hatte es nie
gereicht. Zu seltsam kamen den meisten Frauen seine Ansichten vor, zu
unzumutbar war das Leben, das er führte. Manchmal auch zu gefährlich. Und wäre
es jetzt nicht furchtbar, eine verzweifelte Frau zu Hause zu wissen? Es war
besser, dass er allein war, und wenn er jetzt ausbrach …
Hin- und hergerissen stieß er sich von der Wand ab und stapfte von
einem Ende der Zelle zum anderen. Die Konsequenzen, von denen
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