Der Kuss des Jägers
Raphael
gesprochen hatte, standen ihm lebhaft vor Augen. Wenn er seine Strafe brav
verbüßte, konnte er sein Leben danach wieder aufnehmen, soweit es je einem
Exhäftling möglich gewesen war. Doch wenn er floh, würde nichts mehr so sein
wie vorher. Er würde untertauchen und sein Aussehen verändern müssen. Nie
wieder würde er in seine Wohnung zurückkehren oder mit seinen Freunden im
Jardin du Luxembourg Sport treiben können, ohne erkannt zu werden. Nie wieder
würde er sich von der Polizei bei der Dämonenjagd erwischen lassen dürfen,
sonst saß er für sehr viel längere Zeit ein. Einsamkeit, Vorsicht,
Rastlosigkeit und Misstrauen würden sein Leben noch viel mehr bestimmen, als
sie es bisher schon getan hatten.
Aber hatte er wirklich eine Wahl? Es mochte Hochmut sein zu glauben,
dass nur er Lilyth vor dem Schlimmsten bewahren konnte, doch Gaillard traute er
es nicht zu, und wer blieb dann noch? Der alte Mann konnte exorzieren, aber er
würde keinen entlaufenen Teenager aufspüren. Und Kafziel? Sophie und Alex stand
zwar ein Engel zur Seite, aber jener hatte schon einmal seine Hilfe gebraucht,
um Sophie zu retten. Konnte er hier ruhigen Gewissens im Knast sitzen bleiben,
während die Menschen, die ihm – ob er es nun gewollt hatte oder nicht –
nahestanden, in Gefahr waren?
»Deine Entscheidung ist getroffen?«
Es war so selbstverständlich, in diesem Augenblick diese Stimme zu
hören, dass Jean nur gelassen aufblickte. »Ja.«
Raphael reichte ihm eine zusammengelegte Uniform, wie die Aufseher
sie trugen. »Ich kann sie nicht alle mit Blindheit und Taubheit schlagen, aber
ich kann dafür sorgen, dass sie weniger aufmerksam und argwöhnisch sind. Geh
einfach ruhig deines Weges.«
Das sagt sich so leicht. Rasch zog Jean
die fremden Sachen über. Wo sie herkamen, war ihm gleich. Aber würden sie
reichen, um aus der Nähe jemanden zu täuschen? Wäre es nicht besser, auch das
Gesicht jetzt schon zu verändern? Raphael nickte nur.
Das ist verrückt, vollkommen verrückt, dachte
Jean, während er sich im lodernden Halbdunkel des Wetterleuchtens den
Dreitagebart abrasierte. Er kannte sich in dieser riesigen, verwinkelten Anlage
nicht gut genug aus. Wie sollte er den nächstgelegenen Ausgang finden? Wie
viele gab es, und welchen benutzten die Wärter dieses Trakts?
»Lass das meine Sorge sein. Geh jetzt! Ich muss bald zurück in
meiner Zelle sein.«
Die Frage, ob sie ihn in der gleichen Haftanstalt eingesperrt
hatten, lag Jean auf der Zunge, doch er sah dem Engel an, dass ihr Gespräch
beendet war. Schloss und Riegel der schweren Stahltür klackten und ruckten,
dann öffnete sie sich wie von Geisterhand. Ein Vers aus der Apostelgeschichte
fiel ihm ein: »Der Engel des Herrn tat in der Nacht die Türen des Gefängnisses
auf.« Hybris!, warnte ihn die Stimme erneut. War es
sein Gewissen oder nur ein verkümmerter Rest des früheren Priesterschülers, der
es unangemessen fand, sich mit Petrus zu vergleichen?
Als er sich noch einmal nach Raphael umdrehte, war der Raum leer. Er
sammelte sich, atmete tief ein und trat auf den Flur. Da alle anderen Türen
geschlossen waren, zog er seine wieder zu. Im ersten Moment wollte er es hastig
tun, doch er besann sich eines Besseren. Kein Aufseher würde es damit eilig
haben. »Geh ruhig deines Weges«, hatte der Engel gesagt. Es kostete Jean
Überwindung, den Rat zu befolgen. Bei jedem Schritt war er sich der
Überwachungskamera bewusst, die in einer Ecke über der Tür hing und die ganze
Länge des hell erleuchteten Gangs erfasste. Vom Toben des fernen Gewitters oder
dem Licht des Vollmonds war hier nichts zu merken, ebenso gut hätte er sich auf
einer Raumstation oder tief unter der Erde befinden können.
Erzwungen langsam, aber doch zügig genug, um nicht orientierungslos
zu wirken, ging Jean an den anderen Zellen vorbei und näherte sich dem Ausgang
des Isolationstrakts. Es gab keinen Wächter, keine Schleuse. Von den
Patrouillengängen der Nachtschicht abgesehen, wurde das Innere der Anstalt
offenbar von zentraler Stelle aus an Monitoren überwacht. Tu
wenigstens so, als müsstest du aufschließen!, sagte er sich und drehte
die Hand vor dem Schloss, in dessen Innern er den Mechanismus klicken hörte.
Wenn sie nach seiner Flucht die Videobänder ansahen, würden sie ihn entweder
für einen begnadet raffinierten Einbrecher oder eine Art Houdini halten.
Noch während er die Tür durchschritt, wusste er plötzlich, in welche Richtung er sich dahinter wenden musste.
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