Der Kuss des Jägers
Florence in ein Zimmer voran, das offenbar als Aufenthaltsraum
für die Belegschaft diente. Ein Fenster gab es nicht, aber einen vergitterten
Lüftungsschacht. Dennoch roch es muffig und nach kaltem Rauch. Die vergilbten
Tapeten lösten sich allmählich von den feuchten Wänden. Ein alter Kühlschrank
brummte vor sich hin. Jacken und Taschen lagen auf den Stühlen um einen
Holztisch, auf dem Gläser, eine angebrochene Wasserflasche und ein voller
Aschenbecher standen.
»Abgeschiedener geht’s kaum.« Florence nahm eine angebrochene
Schachtel vom Tisch, fingerte eine Zigarette heraus, die sie sich in den
Mundwinkel steckte, und bot ihm ebenfalls eine an.
Jean zögerte. Er hatte seit über einer Woche keine mehr angerührt
und gerade erst angefangen, nicht mehr ständig daran zu denken. Doch der
Anblick löste eine solche Gier aus, dass er zugriff, bevor er es bewusst
entschieden hatte. Einmal ist keinmal. Und außerdem
hatte er ohnehin kein Geld, um sich Nachschub zu kaufen.
Aus der Nähe betrachtet fiel auf, dass selbst das Make-up nicht
verdecken konnte, wie sehr Sonnenstudio und Rauch Florences Haut gegerbt
hatten. Sie ließ sich auf dem abgewetzten Sofa nieder, das die Einrichtung
vervollständigte. »Also? Was hast du ausgefressen?«
Er wollte schon zu einer barschen Erwiderung ansetzen, als der erste
Zug seine verblüffende Wirkung entfaltete. Es war ihm gar nicht mehr
aufgefallen, dass der Entzug ihn noch immer gereizt gemacht hatte, doch die
Gelassenheit, die ihn plötzlich überkam, ließ sich nicht leugnen. »Du weißt,
was ich tue. Leider musste ich dabei das Gesetz übertreten, um das Leben einer
Frau zu retten. Ich halte es für besser, wenn du nicht mehr weißt.«
»Es sind also wirklich die Flics, die nach dir suchen. Üble Sache.«
Warte, bis du morgen mein Fahndungsfoto in der
Zeitung siehst. »Allerdings. Ich kann nicht mehr nach Hause, meine
Konten dürften jetzt auch gesperrt sein …« Und selbst wenn
nicht, werde ich mein neues Gesicht nicht in die Überwachungskamera einer Bank
halten. »… und bei meinen Freunden lauern schon die Bullen auf mich.
Glaub mir, dass ich dich nicht gern mit meinen Problemen belästige, aber ich
muss untertauchen.«
Ihre Augen verengten sich, während sie an ihrer Zigarette sog. »Wenn
du Geld willst, tut es mir leid. Ich habe keins«, behauptete sie kühl.
»Das erzählst du mir jetzt seit anderthalb Jahren.«
Ihre ruhige Fassade bröckelte. »Weil es wahr ist!«
»Schön, nehmen wir an, es ist wahr. Denn wenn ich glauben müsste,
dass du mich auf den Arm nimmst, weil ich dir keinen Gerichtsvollzieher auf den
Hals hetzen kann, könnte ich auf die Idee kommen, meine Arbeit hier ungeschehen
zu machen.«
Erschrocken griff sie nach dem Kreuz auf ihrem Dekolleté. »Das
kannst du?«
»Natürlich. Um einen Fluch aufzuheben, muss man erst einmal wissen,
wie er bewerkstelligt wird.«
In ihrer Miene kämpften Angst und Schläue um die Vorherrschaft. »Das
würdest du nicht tun. Du bist einer von den Guten. Dein Gewissen verbietet es
dir. Gott verbietet es dir!«
»Was Gott will, interessiert mich nicht. Ich bin auf der Flucht,
Florence. Wer jetzt nicht auf meiner Seite ist, ist gegen mich.«
»Ich bin auf deiner Seite, aber ich hab das verdammte Geld nicht!«
Jean zuckte die Achseln, obwohl er ihr glaubte. »Dann hast du jetzt
Gelegenheit, deine Schulden auf andere Art zu begleichen.«
Sogleich schlich sich Misstrauen in ihren Blick. »Und die wäre?«
»Du versteckst mich eine Weile. Kost und Logis, wenn du so willst.«
»Pfff.« Sie blies eine besonders große Rauchwolke aus. »Weißt du,
was du da verlangst? Wenn sie dich bei mir finden, bin ich auch dran.«
Seine Gelassenheit schwand. »Jetzt komm mir nicht so! Du lässt hier
seit Jahren deine illegalen Küchensklaven hausen, also wirst du mich ja wohl
auch noch unterbringen können.«
»Das ist was ganz anderes!«, empörte sie sich. »Ohne die hätt ich
schon vor Jahren dichtmachen müssen.«
»Trotzdem könnte es dich in Teufels Küche bringen, und du tust es
dennoch.«
»Weil ich muss.«
»Weißt du, ich könnte jetzt sagen, dass du das hier auch musst, weil
ich sonst den Bann dieses Fluchs wieder aufhebe, den dir dein Faible für
Afrikaner eingebracht hat. Aber mir wäre lieber, du würdest einsehen, dass du
für deine Schulden irgendwann geradestehen musst.«
Sie nahm einen letzten Zug, stand auf und drückte die Zigarette im
Aschenbecher aus, bevor sie ihn wieder ansah. »Ich könnt
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