Der Kuss des Jägers
mich heute noch dafür
in den Hintern beißen, dass ich auf diesen Buschzauberer reingefallen bin. Aber
wenn ich deinetwegen auffliege, marschier ich bis in den Dschungel und hetz ihn dir auf den Hals!«
Das Dach war aus weißem Stein gefügt, geschuppt wie die
Haut eines Drachen. Kantiger, massiver als gewöhnliche Dachziegel türmten sich
die in der Sonne leuchtenden Steinplatten zu einer flachen Kuppel, auf deren
höchstem Punkt ein in milchiges Plastik gehülltes Gebilde emporragte. Sophie
stand auf dem ebenso weißen Gang, der um das Dach führte. Über ihr wölbte sich
der blaue Sommerhimmel, doch sie spürte weder Hitze noch die übliche Brise auf
Sacré-Cœur. Nichts trennte sie von einem Sturz in die Tiefe als eine niedrige
weiße Mauer. Jenseits des runden Dachs erhob sich der mächtige Hauptturm der
Basilika, doch sie konnte den Blick nicht von dem verhüllten Gerüst abwenden.
Aus dem Augenwinkel erahnte sie Jean, der an ihrer Seite stand und den Kopf
schüttelte.
»Das bringt nichts. Es ist nur eine Statue.«
Die Worte weckten nur Trotz. Was auch immer das Gerüst und die Folie
verbargen, es zog sie magisch an. Sie musste es sehen – um jeden Preis. Wie auf
einer Treppe stieg sie Schicht um Schicht der steinernen Schuppen nach oben,
bis sie sich direkt vor ihrem Ziel befand.
Doch auch aus der Nähe blieb das Plastik zu undurchsichtig. Mehr als
ein bläulich grüner Schimmer drang nicht aus dem Innern. Ohne nachzudenken,
griff sie nach dem Ende eines der breiten Klebebänder, die die Folie an ihrem
Platz halten sollten. Sie zog, und es löste sich mit hässlichem Krachen, bot dann
doch Widerstand, löste sich ein Stück weiter, hielt wieder fest. Entschlossen
zerrte sie stärker. Das Plastik dehnte sich, riss. Das plötzliche Nachgeben
raubte ihr den Halt. Sie schwankte, warf sich nach vorn, krallte sich mit den
Fingernägeln in die dicke Folie.
»Lass es sein! Es führt zu nichts«, rief Jean.
Und ob es das tut! Immerhin hatte sie
schon einen kleinen Teil des Gerüsts freigelegt. Unbeirrbar pulte sie das Ende
eines weiteren Klebebands ab, bis es lang genug war, um daran zu ziehen, kämpfte
sich gegen die widerspenstige Verschmelzung von Klebstoff und Folie in einen
Rausch. Jeder Fetzen, den sie löste, jeder Handbreit Plastik, der sich zur
Seite zerren ließ, stachelte sie umso mehr an. Was sich darunter verbarg,
schien unter ihren Anstrengungen zu schrumpfen. Eben noch hatte es sie weit
überragt, nun reichte es kaum noch über ihren Kopf hinaus. Verwundert sah sie
sich nach Jean um, der das Interesse an ihrem Treiben verloren zu haben schien
und nun gedankenversunken auf der schmalen Umrandung des Dachs
entlangspazierte, als sei es die Champs-Élysées.
Noch verwirrter wandte sie sich wieder der Gestalt zu, die sie aus
der Folie geschält hatte. Kein Baugerüst mehr weit und breit, nur noch diese
kupferne Skulptur eines Engels, die zu hellem Türkis verwittert war. Mit
ausgebreiteten Flügeln reckte die Figur ein Banner gen Himmel, während unter
ihrem Fuß ein Ungeheuer lag, dem das Schwert noch aus dem Nacken ragte. Macht
und Triumph sprachen aus der Haltung des Engels, doch seine grünspanblauen Augen
blickten tot ins Leere. Der Anblick berührte ihr Innerstes. Mit einem Mal sah
sie das Gesicht klarer. Rafe! Es waren eindeutig
seine Züge, seine Augen, die über sie hinweg gen Himmel starrten. Er war
irgendwo dort drin, gefangen in diesem kupfernen Körper, versteinert für die
Ewigkeit. Hörte sie ihn nicht schreien? War es nicht seine Stimme, die zur
Unverständlichkeit gedämpft durch das Metall drang? Sie musste ihn befreien!
Aber wie?
Mit bloßen Fäusten trommelte sie auf die Brust der Statue ein,
kratzte mit den Nägeln winzige Krümel oxidierten Kupfers ab, während ihr Tränen
über die Wangen liefen. Feine Risse sprangen in der harten Schale auf. Ein
Strick war plötzlich um die Stange des Banners geknotet, doch sie beachtete ihn
nicht, schlug die Finger in die sich öffnenden Spalten, um sie zu weiten. Wie
alte Farbe blätterte das marode Metall von der Gestalt ab, die sich darunter
regte.
Lachend vor Glück wich Sophie einen Schritt zurück, stieg eine Stufe
tiefer, um Rafael Raum zu geben, damit er die letzten Bruchstücke seines
Panzers abschütteln konnte. Als sie zu seinem Gesicht aufsah, versiegte ihr
Lachen. In seinen Augen funkelte ein unheiliges Licht. Dunkle, zerrupfte Federn
bedeckten die Schwingen. Mit einem Triumphschrei warf er die Fahne aus der
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