Der Kuss des Jägers
ihr. Von
ihren Schulfreunden will niemand sie gesehen haben. Ich kenne mich in
technischen Dingen nicht aus, aber ihr Handy, über das man sie angeblich leicht
finden sollte, ist offenbar nicht zu orten.«
Ein Teenager ohne sein Handy? Hoffentlich
bedeutete das nichts Schlimmes. »Danke, dann werde ich mich nach ihr umsehen.«
»Das ist es, was ich an Ihnen schätze, Méric. Selbst jetzt, da Sie
selbst ein Kreuz zu tragen haben, wollen Sie anderen das ihre erleichtern.«
»Wünschen Sie mir Glück, Gaillard.«
»Das Glück ist wankelmütig. Möge der Segen des Herrn Sie begleiten!«
A ls Sophie mit ihren Einkäufen
in der Wohnung angekommen war, hatte es sie viel Selbstbeherrschung gekostet,
nicht alles fallen zu lassen und zum nächsten Fenster zu rennen, um
nachzusehen, ob Jean gerade vor dem Haus abgefangen wurde. Einsilbig hatte sie
Madame Guimards Fragen nach ihrem Vormittag und den Marktständen beantwortet,
während sie im Stillen um Jean gebangt und auf Polizeisirenen gelauscht hatte,
bis er zu weit weg sein musste, als dass sie noch etwas von seiner Verhaftung
hätte wahrnehmen können. Stunden später saß sie in ihrem Zimmer und versuchte,
sich zur Abwechslung auf einen Liebesroman zu konzentrieren, doch ihre Gedanken
schweiften immer wieder ab.
Ich sollte aufhören, mir so viele Sorgen zu
machen. Indem sie sich mit Hirngespinsten seiner Festnahme quälte, half
sie ihm schließlich auch nicht. Schuldbewusst merkte sie, dass sie den ganzen
Tag noch nicht an Rafe gedacht hatte. Er war nun bereits den dritten Tag in
Haft, aber in der ganzen Aufregung hatte sie kaum Zeit gehabt, ihn zu
vermissen. Um einen Engel muss man sich auch nicht sorgen,
oder? Schlimmstenfalls langweilte er sich in seiner Zelle. Was hatte
Jean wohl über einen Engel sagen wollen, bevor sie unterbrochen worden waren?
Dass bei seinem Ausbruch ein Schutzengel über ihn gewacht hatte? Vielleicht war
Geneviève an seiner Seite gewesen.
Ob die B. C. wohl vorbeikommen und sie
zu Jeans Flucht befragen würde? Einerseits lag es nahe, sie aushorchen zu
wollen, da sie als vermeintlich enge Freundin möglicherweise sein Versteck
kannte. Andererseits musste ihnen klar sein, dass sie ihn niemals verraten
würde. Auf keinen Fall durfte sie sich anmerken lassen, dass sie bereits
Bescheid wusste. Mit welcher Reaktion konnte sie wohl am glaubwürdigsten
Überraschung heucheln?
Sie steigerte sich so sehr in dieses fiktive Gespräch, dass sie vor
Schreck vom Bett sprang, als es an der Tür klingelte. Angespannt horchte sie
auf Madame Guimards Schritte zur Tür, die das alte Parkett wie stets
unüberhörbar machte. O mein Gott. Es war so weit. Capitaine Lacours Stimme. Sie wartete nicht, bis man sie
rief, sondern ging den beiden Männern entgegen. »Bonjour, Messieurs.«
Gonod nickte ihr freundlich zu, während sein Vorgesetzter eine
ernste Miene machte.
»Bonjour, Mademoiselle. Dürfte ich Ihnen ein paar weitere Fragen
stellen?«
Als ob ich eine Wahl hätte. »Selbstverständlich.«
»Bitte, Messieurs, setzen Sie sich in meinen Salon«, lud Madame
Guimard sie höflich ein. Ihr Gesicht verriet nicht, was sie wirklich von diesem
neuerlichen Überfall hielt.
»Danke, Madame, aber machen Sie sich keine Umstände.«
Die alte Dame lächelte unverbindlich, doch dann warf sie Sophie
einen Blick zu, in dem deutlich zu lesen stand: »Für die? Hatte ich nicht vor.«
Sophie unterdrückte ein Grinsen. Madame Guimard hielt sonst so viel
auf gute Umgangsformen, dass die Polizisten sie schon sehr enttäuscht haben
mussten, um keinen Kaffee zu bekommen. Sie hatte ihnen wohl noch nicht
verziehen, dass sie Sophies Opferrolle anzweifelten und ihre Entführung nicht
verhindert hatten.
Lacour und Gonod blieben stehen, bis Sophie auf einem der Sessel
Platz genommen hatte. Ob es Höflichkeit war oder eine eventuelle Flucht
verhindern sollte, vermochte sie nicht zu entscheiden. »Worum geht es heute?«,
erkundigte sie sich in bewusst neutralem Ton.
»Können Sie sich das nicht denken?«, fragte Lacour zurück.
»Äh …« Sollte das eine Falle sein? Dann war sie nicht besonders
geschickt gestellt. »Nein.«
»Dann muss ich Ihnen wohl auf die Sprünge helfen. Warum haben Sie
uns verschwiegen, dass Sie Kontakt zu einer Zeugin haben, von der Sie
behaupten, sie nicht zu kennen?«
»Ach so!« Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. »Ich kenne diese
Frau ja auch nicht. Sie hat sich mir immer noch nicht vorgestellt. Außerdem
hatte ich vor heute Morgen nicht mehr
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