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Der Kuss des Jägers

Der Kuss des Jägers

Titel: Der Kuss des Jägers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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krallenbewehrten
Hand. Sophies Blick folgte dem Seil, das daran festgebunden war. In der Ferne
balancierte Jean darauf über den Abgrund.
    »Nein!«
    Schweißgebadet fand sie sich in ihrem Bett wieder. Ihr Herz raste so
schnell, dass sie die einzelnen Schläge nicht mehr unterscheiden konnte.
Keuchend rang sie nach Luft, strampelte das feuchte Laken von sich, um sich
aufsetzen und freier atmen zu können. Es war nur ein Traum.
Ein blöder, bescheuerter Albtraum. Rafe war kein gefallener Engel mehr,
und ganz sicher wünschte er Jean nichts Schlechtes. Dieser Traum ergab
überhaupt keinen Sinn. Es verhielt sich doch genau andersherum. Er war ein
Monster gewesen, und sie hatte ihn erlöst – oder er sich selbst, so sicher war
sie da nicht. Für ihn war jedenfalls alles gut ausgegangen. Warum spann sich
ihr Gehirn nur so einen Mist zusammen?
    Obwohl das mit Jean nicht ganz von der Hand zu weisen war.
Schuldbewusst fuhr sie sich durch das wirre Haar. Ob es ihm wohl gut ging?
Hatte er einen sicheren Unterschlupf für die Nacht gefunden? Sie konnte es nur
hoffen. Mein Gott, was hab ich ihm angetan?

    Eine in Samt und Seide gekleidete Vampirdame, zu groß und
breitschultrig, um eine Frau zu sein, fauchte ihn spielerisch an, als er sie
mit einer abwehrenden Geste auf Distanz hielt. Die verlängerten Eckzähne
blitzten im Laserflimmern des ansonsten düster gehaltenen Clubs, dessen Wände
und Decken bei Tag vielleicht nach Pappmaché ausgesehen hätten, doch in diesem
Dämmerlicht wirkte das Gewölbe beinahe echt. Künstliches Moos und Flechten, Fledermausattrappen
und Spinnweben wie aus der Geisterbahn erhöhten den Spaß der Gäste, die selbst
aussahen wie dem Videoclip einer Gothic-Band entsprungen.
    Jean schob sich durch die Menge weiß geschminkter Gestalten zur Bar.
Kajalumrandete Augen, manche so umschattet, dass es krank oder gar leichenhaft
aussah, musterten ihn. So müde, wie ich bin, kann ich mit
meinem Teint gar nicht auffallen. Er brauchte dringend Koffein. In
seinem Verschlag über dem La Martinique , den Florence
ihm zugewiesen hatte, war er nach dem Abendessen eingenickt, und nur die Sorge
um Lilyth hatte ihn noch einmal auf die Beine getrieben.
    »Irgendwas, das richtig wach macht«, brüllte er dem Barkeeper über
stampfenden Beat und das Dröhnen harter Gitarrenriffs zu. Der Mann kannte sich
mit den neuesten Aufputschcocktails der Getränkeindustrie sicher besser aus als
er.
    »Cooles Outfit«, rief ihm der mit kniehohen Plateaustiefeln und
barockem Gehrock aus schwarzem Samt bekleidete Typ neben ihm ins Ohr. Der
bleichen Miene mit Lippen, die kaum mehr als dunkle Striche waren, konnte Jean
nicht entnehmen, ob das Kompliment ironisch gemeint war, aber etwas anderes
konnte er sich nicht vorstellen.
    »Der letzte Schrei aus Tokio«, gab er grinsend zurück und schüttete
die widerlich süße Kaffeelimonade hinunter, die der Barkeeper vor ihm auf den
Tresen gestellt hatte. Aus der Nähe betrachtet war wohl unübersehbar, dass er
das schwarze T -Shirt mit der Innenseite nach außen
trug, um den peinlichen »I love Paris«-Aufdruck samt Eiffelturm zu verbergen.
Immerhin hatte er das Größenetikett vorsorglich abgeschnitten, aber die Nähte
verrieten ihn. Wenigstens gab es an der schwarzen Hose nichts auszusetzen, die
Alex ihm gekauft hatte.
    »Ach, so neu ist das mit den Nähten nicht mehr«, gab der Fremde
zurück. »Hab ich letztes Jahr schon gesehen. Ich find die Spiegelschrift geil.«
    Überrascht sah Jean in den Spiegel hinter der Theke. Je nach
Lichteinfall des Lasers konnte man tatsächlich Buchstaben erkennen, da der
dicke Aufdruck den Stoff versteifte. »Man muss zu seiner Stadt stehen. Vor
allem zu dieser.«
    »C’est vrai – das ist wahr«, meinte der Plateausohlen-Mozart und
prostete ihm zu.
    »Kennst du zufällig eine Lilyth?«
    »Lilyth? Nein, nie gehört.«
    »Trotzdem danke.« Jean ließ die Horde, die die Bar belagerte, hinter
sich und reihte sich wieder in den Strom der Gäste ein, der in gemächlichem
Tempo um die Tanzflächen herum von dunkler Nische zu dunkler Nische floss, wo
man in kleinen Grüppchen beisammensaß, um sich gegenseitig ins Ohr zu schreien.
Es war nun schon der dritte Club, den er nach Lilyth absuchte. Auf diese Art
würde ihm bald das Geld ausgehen, aber – untergetaucht oder nicht – Lilyth war
ein Teenager und deshalb am ehesten dort zu finden, wo sich ihre Szene traf.
    Mit der Zeit fiel es schwer, sich auf die einzelnen Gesichter zu
konzentrieren. Sie verschwammen

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