Der Kuss des Jägers
doch wenn sie den
Ausgang zur hinteren Straße nahm, hielt er die Gefahr für gering. So leise wie
die Katzen zog er sich zurück und bedeutete Sophie, durch die Tür zu gehen.
»Niemand da.«
»Okay.« Sie nickte, aber sie bewegte sich zögerlich, sah ihn noch
einmal wie fragend an, dann wandte sie sich ab, um hinauszuschleichen, wobei
sie sich wachsam umblickte. Er konnte die Spannung ihres Körpers förmlich
spüren, der bereit schien, jeden Augenblick zurück in Deckung zu springen.
Unwillkürlich streckte er die Hand aus, um sie noch einmal zu berühren, legte
die Handfläche auf ihren Rücken, als müsse er sie leiten, und lauschte erneut
auf verdächtige Geräusche. Alles blieb ruhig – nur sein Herz pochte ungewohnt
laut.
Mit einem kurzen Blick zurück trat Sophie endgültig auf den Hof.
Seine Hand blieb kalt und leer zurück. Halt sie nicht länger
auf, du Idiot! Hastig senkte er die Lider und zog die Tür zu, doch er
konnte nicht einfach wieder nach oben gehen. Durch ein schmales, halb blindes
Fenster, vor dem eine vergessene Vase mit Trockenblumen verstaubte, starrte er
hinaus, bis sich Sophies Gestalt in den Schatten der gegenüberliegenden
Toreinfahrt verlor. Erinnerungen an den Kuss, an ihren Körper, der sich an ihn
schmiegte, bedrängten ihn. Sie war so unverstellt, so unverdorben. Selbst für
die Suche nach dem Schlüssel konnte sie sich allen Ängsten zum Trotz
begeistern. Es in ihren Augen zu sehen, hatte ihn sofort angesteckt, als ob es
keine Dämonen und keine Polizei gäbe, die ihnen im Nacken saßen. Warum musste
er sich ausgerechnet jetzt und in sie verlieben? Sie hatte ihr Leben für
Raphael geben wollen! Offensichtlicher konnte sie ihm kaum vor Augen führen,
wen sie liebte. Dass sie einen Augenblick schwach geworden war, hatte nichts zu
heißen. Sie war nur verwirrt, weil sie sich ihm gegenüber schuldig fühlte. Als
wäre sie seinetwegen nicht beinahe draufgegangen! Sie
schuldet mir nichts, und ich nutze es trotzdem aus. Er hätte sich dafür
ohrfeigen können.
Mit einem Knurren wandte er sich von dem Fenster ab, hinter dem der
Blick längst nur noch Schatten und Mauern fand. Es gab Wichtigeres zu tun, als
sinnlosen Träumen nachzuhängen. Lilyth war irgendwo dort draußen und kämpfte
allein gegen Dämonen an, denen ihre geschundene Seele nichts entgegenzusetzen
haben konnte. Womöglich war es Kafziel selbst, der von ihr Besitz ergriffen
hatte, doch selbst wenn es sich um einen seiner Diener handelte, taumelte sie
im wahrsten Sinne des Wortes auf Messers Schneide entlang. Noch mochte der
Dämon auf Sophie fixiert sein, weil sie im Gegensatz zu Lilyth freiwillig hatte
sterben wollen, doch wenn sie sich als geläutert erwies, würde er sich bald
genug auf das labile Mädchen besinnen, das sich bereits unter seinem Einfluss
befand.
Ich muss sie finden. Entschlossen ging
Jean in Florences enges Büro und hielt in dem Durcheinander auf dem
Schreibtisch nach dem Telefon Ausschau. Den Gedanken, dass er sie zuerst hätte
fragen müssen, bevor er es benutzte, wischte er gereizt beiseite. Sie hatte
sicher nichts dagegen, aber sie arbeitete um diese Zeit hinter der Theke und er
durfte mit dem Anruf nicht länger warten, denn L’Inconnue konnte bereits heute stattfinden.
Gerade wollte er nach dem Hörer greifen, als ihm einfiel, dass er
Didier nicht anrufen konnte. »Merde!« Der Fluch des Handys mit seinen gespeicherten
Nummern. Der Geruch ausgedrückter Zigaretten aus dem Aschenbecher trug nicht
dazu bei, seine Laune zu heben. Eine hervorlugende Ecke des Pads ließ ihn unter
ungeöffneten Briefumschlägen die Maus finden. Schon eine kleine Bewegung
genügte, um Florences Computerbildschirm aus dem Stand-by zu wecken. Rasch
orientierte er sich, öffnete das Internet und tippte Didiers Namen in die
Suchmaske einer Handyauskunft. Treffer. Zum Glück
gehörte der stets in Schwarz gekleidete Student zu jenen, die überall im Netz
ihre Daten hinterließen, weil sie es liebten, für jedermann erreichbar zu sein.
Jean hatte schon öfter den Verdacht gehegt, dass sich Didier umso wohler
fühlte, je öfter sein Handy klingelte oder sein Laptop eine neue E-Mail
verkündete. Kein Wunder, dass er in der Szene bekannt war wie ein bunter Hund,
Kontakte vermittelte und stets wusste, was in Paris in Sachen Gothic angesagt
war.
Der Rufton hatte kaum eingesetzt, als auch schon »Hallo?« aus dem
Hörer drang.
»Didier? Hier ist Jean. Wie geht’s dir so?«
»Jean! Das ist ja ’ne Überraschung. Mir
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