Der Kuss Des Kjer
gegensätzlichen Empfindungen halfen ihm, sich zu entspannen. Inzwischen kam er jede Nacht hierherauf, genoss die Stille in der Gewissheit, dass ihn niemand stören würde. Er atmete tief und langsam, spürte dem Weg des Atems in seinem Körper nach, versank darin. Wie immer saß er mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, den Rücken gerade, die Handgelenke entspannt auf den Knien, die Hände locker geöffnet, und genoss Wärme und Kühle auf seinem nackten Oberkörper.
Es gab nicht viel, wofür er den Kessanan dankbar war, doch das Ma-Raltai, das Versinken im eigenen Selbst, gehörte ebenso dazu wie der Ashk-Keshtani. Die alten Rituale hatten sich schon vor all den Wintern richtig angefühlt - auf eine seltsame Weise, so, als wären sie ihm schon vertraut gewesen, noch ehe Arkell sie ihn gelehrt hatte. In den letzten Nächten waren sie das Einzige, was ihm half, seine Gedanken zur Ruhe zu bringen. Doch heute wollte es ihm einfach nicht gelingen. Selbst während er sich auf seinen Atem konzentrierte, blickten ihn emeraldfarbene Augen an, in denen Tränen glänzten. Seine Hände schlossen sich zu Fäusten, er stieß ein Knurren aus, stand auf und trat an den Zinnenkranz. Von Nacht zu Nacht brannten weniger Lichter in den Häusern Cavallins. Die Stadt ist eine Todesfälle! Und wir sitzen mittendrin! Seit Tagen suchten Brachan und die anderen nach einem Weg hinaus -
ohne Erfolg. Zwar hatten sie eine offenbar vergessene, mächtige Kaverne gefunden, von der uralte Stollen tiefer in den Berg hineinführten, und einige von ihnen stiegen tatsächlich nach oben, doch sie endeten alle vor massivem Fels. Er stützte den Ellbogen gegen die Zinnenkannte und presste den Fingerknöchel gegen die Zähne. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Seuche auch sie heimsuchen würde. Und dann? - Er konnte die Frage nicht beantworten.
Zu Anfang war er überzeugt gewesen, die Heilerin würde sich als Schlüssel zu seinem Problem erweisen. Dass sie ein Heilmittel gegen die Krankheit finden könnte oder wenigstens die Ursache, damit man die Seuche bekämpfen könnte und die Tore wieder geöffnet würden. Sie hatte keinen Erfolg gehabt. Er hatte schließlich selbst die Krankenlisten durchgesehen und die Kranken, die vom Fieber und den Schmerzen noch nicht zu benommen waren, befragt - es schien keine Gemeinsamkeiten zu geben. Bitter verzog er den Mund. Außer der Gemeinsamkeit, dass offenbar jeder der Seuche zum Opfer fallen konnte. Das Einzige, was sie mit ziemlicher Sicherheit wussten, war, dass die Krankheit nicht von den Kranken selbst übertragen wurde - allerdings waren die Bürger Cavallins zu verängstigt, um das zu glauben.
Bei allen Rachegeistern, zehn Tage sitzen wir hier schon fest und es ist nicht abzusehen, wie lange es noch dauern wird! - Verdammt! Es kann doch nicht sein, dass das Tor tatsächlich der einzige Weg hinaus ist! - Und mit jedem Tag wird es unwahrscheinlicher, dass es der Heilerin gelingt, den Grund für die Seuche zu finden - oder ein Heilmittel.
Mit einer müden Bewegung fuhr er sich durchs Haar. Bisher hatte die Heilerin sich geweigert aufzugeben. Selbst als Terodh ihr gesagt hatte, es sei hoffnungslos und dass jeder Erkrankte auch starb. Wann immer sie ein wenig Zeit gefunden hatte, hatte er sie über Folianten und Schriftrollen gebeugt gesehen, auf der Suche nach einem Heilmittel oder wenigstens einem Ansatz, wie man die Krankheit möglicherweise bekämpfen konnte. Doch heute Abend hatten Verzweiflung in ihren Augen gestanden - und die Angst. Seit Tagen rang sie um das Leben der Kranken, obwohl sie wusste, dass sie keinen Erfolg haben würde. Er hatte beobachtet, wie sie jeden ihrer Patienten auf jene Art berührte, auf die sie damals auch Levan berührt hatte; jedes Mal sagte ihm der Ausdruck in ihrem Gesicht, dass sie den Tod gesehen hatte. Und dennoch würde sie morgen weitermachen. Er setzte sich seitlich auf die Mauer zwischen zwei Zinnen, strich gedankenverloren über seinen Arm. Der Schorf hatte sich nach und nach gelöst, zurückgeblieben war eine Narbe, die sich als seltsam weiß glänzendes Geflecht aus feinen Linien von den Fingerknöcheln bis zum Ellbogen hinaufzog. Eine Stelle mehr auf seiner Haut, die von nun an kahl bleiben würde. - Die Narbe an der Schläfe der Heilerin sah genauso aus, auch wenn sie unter den Mitternachtsfeuersträhnen ihres Haares kaum zu sehen war.
Eine Frau wie die Heilerin war ihm noch nie begegnet. Er schnaubte bitter. Frauen sind schwach, töricht und
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