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DER KUSS DES MAGIERS

DER KUSS DES MAGIERS

Titel: DER KUSS DES MAGIERS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. Landauer
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wieder auf.
    Diesmal hatte der Zuschauer mehr aufgezeichnet. LeNormands Auftritt war noch nicht beendet. Ein Mann mit Bart und schwarzem Rollkragenpullover brachte von der Seite einen Tisch auf die Bühne. Sina hielt den Atem an, doch es war nicht der Tisch mit den Pistolen, sondern ein großes Rondell, in dem senkrecht, mit der Spitze nach oben, elf Dolche steckten, wie auf einem Ziffernblatt. Die zwölfte Mulde war leer. Der Assistent holte ein Tuch aus seiner Tasche, wickelte es zu einer festen Kordel, und zog es über den ersten Dolch. Es zerfiel in zwei Teile. Dasselbe wiederholte er bei den anderen Dolchen, mit jeweils neuen Tüchern.
    LeNormand griff über seinen Kopf in die Luft und hielt plötzlich etwas in der Hand, das aussah wie ein kleiner Lampenschirm. Der Assistent nahm ihm das Gebilde ab, und es stellte sich heraus, dass es viele ineinander gestapelte, undurchsichtige Pappbecher waren, die er, jeweils den Boden nach oben, über die elf Dolche und den leeren Platz stellte. Den dreizehnten zerknüllte er mühelos zwischen den flachen Händen, um zu zeigen, wie wenig stabil sie waren. Danach erklärte er, was geschehen würde: Mit verbundenen Augen wollte LeNormand den Becher ohne Dolch finden und ihn mit der Handfläche voller Wucht herunterdrücken. Wenn er den falschen erwischte – nun ja … Der Bärtige zeigte noch einmal die zerschnittenen Tuchstücke. Anschließend verband er dem Magier mit dem längsten davon die Augen.
    Danach drehte er den Tisch. Sina versuchte unwillkürlich, den Becher mit dem leeren Platz im Auge zu behalten, doch das Rondell drehte sich schneller und schneller. Als es stehen blieb, konnte niemand mehr wissen, wo keine Klinge steckte – nicht einmal LeNormand.
    Wie bei der Nummer mit den Pistolen ließ der Magier nun den Assistenten das Rondell immer nur ein Stück weit drehen und hielt über jeden Becher, der vor ihm stand, in etwa zehn Zentimetern Abstand die Hand. Schüttelte er den Kopf, drehte der Bärtige weiter. Beim achten jedoch nickte LeNormand. Es gab einen langen Trommelwirbel – oder bildete Sina sich das vielleicht nur ein? –, und der Magier hob langsam den Arm. Und dann schlug er schnell und kräftig auf den Becher.
    Unwillkürlich schrie Sina auf. Doch als LeNormand die Hand hob, war sie unverletzt, der Becher zerknüllt, der Platz leer.
    Beim sechsten Video hatte Sina sich allmählich an den Effekt gewöhnt. Sie sah noch mehrmals den Spiegeltrick – immer mit rothaarigen jungen Frauen – und immer wieder die Dolchnummer. Doch kein einziges Mal verschwand auch LeNormand im Spiegel, und kein einziges Mal waren Pistolen im Spiel. Sina prüfte die Daten der gezeigten Videos und las die Beschreibungen dazu – es waren alles kürzlich aufgenommene Filme und Aufführungen der aktuellen Tour.
    Jetzt musste sie doch Lugo fragen, was bei ihrem Auftritt wirklich geschehen war. Oder … Ihr Herz schlug wieder schneller. Mit richtig viel Glück hatte auch heute jemand im Publikum heimlich gefilmt. Jemand, der seine Clips danach auf YouTube stellte. Aber wie schnell konnte sie damit rechnen?
    Sie prüfte verschiedene Stichwörter zum Thema unter dem Suchkriterium „Neueste Videos“, ohne Ergebnis.
    Schließlich schaltete Sina seufzend den Computer aus. In einer Viertelstunde würde ihre Mutter nach Hause kommen. Sie würde nach dem langen Tag todmüde sein und verdiente eine ruhige Nacht – die sie am ehesten hatte, wenn sie ihre Tochter heute nicht mehr zu Gesicht bekam.
    Schnell ging Sina ins Bad, putzte sich die Zähne und kroch unter die Bettdecke. Sie hörte ihre Mutter gar nicht mehr kommen, weil sie entgegen ihrer Erwartungen sofort einschlief.

4. KAPITEL
    Sie rannte, rannte an toten Bäumen vorbei, die ihre knorrigen, im Mondlicht silbrig glänzenden Äste in den Himmel streckten. Der Boden war sandig, die Luft kalt. Das schaurige Krächzen eines Vogels übertönte ihren keuchenden Atem. Verfolgte sie jemanden, oder wurde sie verfolgt? Als sie über die Schulter zurückblickte, sah sie nur flaches, leeres Land hinter den letzten Baumleichen.
    Vor ihr lag … was? Sie verlangsamte ihre Schritte und sah nach vorn. Eine weiß glitzernde Fläche erstreckte sich vor ihr, um die einzeln und in kleinen Gruppen Leute standen. Und irgendwo dort war auch … Er.
    Jetzt wusste sie, warum sie gerannt war. Sie suchte ihn. Sie musste ihn finden. Musste tun, um was er sie in seinen Träumen immer wieder bat. Aber was war das? Egal. Wenn sie ihn nur wiedersah

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