DER KUSS DES MAGIERS
spüren, wo kein Dolch ist?“
„Keine Ahnung“, antwortete Sina wahrheitsgemäß. Aber schließlich brauchte LeNormand seine Hände, er würde bestimmt kein hohes Risiko eingehen, wenn er nicht vollkommen sicher war.
Der Assistent hatte ihm die Augen verbunden und begann jetzt, das Rondell zu drehen. Fünfmal hielt LeNormand die linke Hand über die Abdeckung, fünfmal schüttelte er den Kopf.
Beim sechsten Mal nickte er, hob den Arm, ließ die Hand hinuntersausen. Trotz allem zuckte Sina zusammen – und unterdrückte dann, genau wie LeNormand, einen Aufschrei. Ein glühender Schmerz, beginnend in der Mitte der Handfläche, schoss ihren Arm hinauf. Wie erstarrt blickte sie auf den Dolch, der aus LeNormands Handrücken ragte. Erstaunlicherweise war das Publikum nach den ersten Schreckenslauten vollkommen still. Niemand schien recht zu wissen, was von dem schaurigen Anblick zu halten war – schließlich war dies eine Show der Illusionen.
LeNormand schwankte, und sein Assistent stellte sich geistesgegenwärtig vor ihn, um ihn vor den Blicken des Publikums abzuschirmen.
Sina wartete darauf, dass endlich der Vorhang fiel, doch die Bühne blieb offen. Es dauerte nur einige Sekunden, dann trat der Assistent zur Seite. Mit regloser Miene verließ er die Bühne.
LeNormand lächelte – er lächelte! – ins Publikum und hob dann langsam die aufgespießte Hand, sodass sich der Dolch wieder herauszog. Entsetzt verfolgte Sina jede seiner Bewegungen. Sie erwartete, einen Schwall von Blut oder zumindest eine schreckliche Wunde zu sehen, und konnte den Blick nicht abwenden – im Gegensatz zu einigen Leuten vor ihr, die sich umdrehten.
Ihre Hand tat sehr weh, und Sina wusste, dass sein Lächeln gespielt war. Er musste irrsinnige Schmerzen haben, aber er war offenbar entschlossen, die Nummer zu Ende zu bringen. Als er schließlich die Hand befreit hatte, hochhielt und dem Publikum präsentierte, lief ihm kein Blut den Arm hinunter. Im Gegenteil, von der breiten Stichwunde war schon nach kurzer Zeit nur noch so wenig zu sehen, dass man sofort dachte, man hätte sich das alles nur eingebildet. Als LeNormand sich unter frenetischem Beifall verbeugte, waren beide Hände unverletzt.
„Was für ein irrer Trick“, murmelte jemand hinter ihr.
„Ein bisschen makaber, aber wirklich verblüffend“, meinte ihre Mutter.
Wie erschlagen saß Sina da, während LeNormand sich noch einmal verbeugte und dann – relativ unspektakulär – die Bühne über einen Seitenausgang verließ.
Sie hatte diese Nummer in sechs verschiedenen Videos von sechs verschiedenen Auftritten gesehen. Es gehörte nicht zum Plan, dass LeNormand sich dabei verletzte. Weshalb passierte das also an diesem Abend? Und warum spürte sie seine Schmerzen so intensiv, als hätte sie sich selbst den Dolch in die Hand gerammt? Unwillkürlich schloss Sina die Hand zur Faust, weil sie immer noch dumpf pochte. So etwas machte es ein wenig schwierig, die ganze Sache „einfach zu vergessen“, selbst wenn sie es gewollt hätte.
„Mom, ich … ich muss noch mal hinter die Bühne“, murmelte sie. „Er wollte noch etwas mit mir besprechen.“
Es war eine dieser Situationen, in denen sie ihre Mutter hätte küssen können. Sie setzte nicht zu langen Einwänden an, die alle mit „Warum“ oder „Aber“ begannen, sondern nickte nur und meinte: „Ich warte dann im Foyer auf dich, falls es länger dauert.“
Sina schlüpfte aus ihrer Sitzreihe, wusste dann jedoch nicht so recht weiter. Wenn sie den Zuschauerraum durch einen der regulären Ausgänge verließ, stand sie im Foyer – und wie kam man von dort zu den Künstlergarderoben?
Ach was, egal. Die Bühne war gerade leer – offenbar wusste auch der nächste Künstler nicht so recht, ob er nach der überraschenden Änderung im Ablauf schon dran war. Sina nahm die kleine Treppe, die vor der Bühne stand, hielt sich nicht lange auf und huschte sofort seitlich in die Kulissen.
Sie prallte fast mit einem Mann im indischen Kostüm zusammen, der offenbar gerade auftreten wollte, wich ihm aus, murmelte eine Entschuldigung und ging hastig weiter. Wie im Theater in Payton landete sie schließlich in einem Flur. Von dort musste sie nur den halblauten Stimmen folgen, von denen eine unverkennbar Les gehörte.
„Gut, es war was Neues, aber das Publikum mochte es …“
„Hier kann nicht einfach jeder machen, was ihm gerade einfällt! Das ist jetzt das zweite Mal, dass du das Programm eigenmächtig änderst“, entgegnete
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