DER KUSS DES MAGIERS
die andere Stimme, die Sina nun ebenfalls wiedererkannte. Es war Mr. Selzig, der Veranstaltungsmanager. „Und zwar drastisch! Ich habe dir gestern noch eine Chance gegeben, weil du unser Zugpferd bist. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Wir haben auch Kinder im Publikum, und die wollen keine aufgespießten Hände sehen, egal wie gut der Trick ist. Ganz zu schweigen von den Eltern, die uns auf Schadenersatz verklagen, weil ihre Kleinen von so was Albträume kriegen. Ich habe gestern schon 10.000 Dollar an dieses Engelchen mit ihrem Türsteher-Freund verloren, das reicht. Mehr können wir uns wirklich nicht leisten.“
Mr. Selzig wurde immer lauter. „Du bist gefeuert! Fristlos. Offiziell ist dieser Trick gerade schiefgegangen und du kannst wegen Verletzung nicht auftreten. Die letzten Vorstellungen werden ohne dich stattfinden. Und jetzt verschwinde!“
Wenn Les dazu noch etwas sagte, war es sehr leise. Jedenfalls hörte Sina nur noch eine Tür klappen, dann Schritte, die sich entfernten. Sie wollte Les nacheilen, als sie mit einem Mal eine schwere Hand auf ihrer Schulter spürte. Erschrocken drehte Sina sich um – und stand vor Les’ bärtigem Assistenten.
Auf der Bühne hatte sie sich den Mann nicht so genau angeschaut, aber jetzt fiel ihr sofort auf, dass alles an ihm schwarz war – bis auf seine Haut, die geisterhaft blass wirkte.
Das kurze, blauschwarze Haar schmiegte sich eng an seinen Kopf und ähnelte deshalb einem Helm, von dessen vorderem Rand sich eine Spitze tief in die Stirn zog. Der akkurat geschnittene, sehr dichte Bart sah aus wie aufgemalt. Und die Augen waren so dunkel, dass Sina nicht erkennen konnte, wo die Iris aufhörte und die Pupille begann.
Sina fröstelte unter seiner Berührung.
„Unbefugten ist der Zutritt hinter der Bühne verboten“, sagte er. Nicht unfreundlich, aber bestimmt.
„Ich muss zu Les“, erklärte sie ein wenig atemlos.
Der Bärtige zog die Augenbrauen hoch – zwei schmale, schwarze Striche. „Was willst du von ihm?“
Sprachlos starrte Sina ihn an, während sie fieberhaft überlegte. Hatte der denn gar nichts mitbekommen? Sollte sie lieber die naive Autogrammjägerin spielen oder so tun, als kennte sie Les schon ewig? Jedenfalls hatte sie nicht viel Zeit, denn wenn sie noch lange hier herumstand, war Les bestimmt über alle Berge. Diesmal war er wohl wirklich gefeuert. Sina hatte keine Ahnung, wo sie ihn dann suchen sollte.
In einem Anflug von Verzweiflung streckte sie dem Bärtigen ihre Hand hin, die noch immer dumpf pochte. Hin und wieder verspürte sie einen schmerzhaften Stich.
„Er hat seinen Dolch in meiner Hand vergessen“, erklärte sie kühl und dachte, dass es ihn vielleicht aus dem Konzept brachte, sodass er sie weitergehen ließ.
Doch als ihr Blick auf ihre Handfläche fiel, wurde ihr beinah schwarz vor Augen. In dem kalten Neonlicht der Flurbeleuchtung sah Sina, dass sie blutverschmiert war. Eine Wunde war nicht zu sehen, aber dieser rostrote Fleck war eindeutig …
Sie schwankte, und der Bärtige griff nicht gerade sanft nach ihrem Handgelenk.
„Nimm dich zusammen“, zischte er. „Das ist doch alles deine eigene Schuld. Wenn du dich gestern nicht so unbeschreiblich dumm angestellt hättest, könntet ihr beide schon frei sein. Stattdessen …“
Empört versuchte Sina, sich loszureißen. Doch sein Griff war wie eine Handschelle aus Stahl. War der Typ völlig verrückt geworden? „Was fällt Ihnen ein!“, rief sie.
Sein Lächeln war unglaublich ebenmäßig – er hatte strahlend weiße Zähne, die in scharfem Kontrast zu der Schwärze in seinem Gesicht standen –, aber eiskalt.
Sina schluckte. „Wie wär’s, wenn Sie mich jetzt loslassen“, schlug sie vor. „Ich glaube nicht, dass Ihr Manager noch mehr Schadenersatz an mich zahlen möchte.“
„Das ist nicht mein Manager“, erklärte der Bärtige sofort. „Ich gehöre LeNormand.“
Zu LeNormand, wollte er wohl sagen, dachte sie.
„Wie auch immer, so etwas kann sehr teuer werden.“ Sina wunderte sich selbst über ihre Ruhe. Aber schließlich hatte sie in den letzten zwei Tagen schon weitaus Unheimlicheres erlebt. Oder?
„Lassen Sie mich los“, fügte sie hinzu.
Immerhin gab der Mann sie jetzt tatsächlich frei, wenn auch widerwillig. Sina gönnte ihm nicht die Genugtuung, sich das Handgelenk zu reiben, obwohl sie spürte, dass sie dort einen blauen Fleck bekam.
Als sie an ihm vorbeigehen wollte, stellte er sich ihr jedoch in den Weg. „Was willst du von ihm?“,
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