Der Kuss des Meeres
Betrachtung unterzieht. Er kann ihr nicht in die Augen sehen, weil er ahnt, was sie sich in diesem Moment ausmalt. Idiot! Sie macht sich keine Sorgen darüber, warum Galen, der Syrena, in ihrem Haus ist. Sie macht sich Sorgen, warum Galen, der menschliche Junge, hier ist.
Emma räuspert sich. » Yep. Das ist er.«
» Ich verstehe. Würdest du uns für einen Moment entschuldigen, Galen? Emma, kann ich bitte unter vier Augen mit dir sprechen? Oben?«
Sie wartet die Antwort gar nicht erst ab. Bevor Emma ihr nach oben folgt, wirft sie ihm ein Ich-hab’s-doch-gesagt- Grinsen zu. Das er mit einem Nicken quittiert.
Da er sich nicht gerade dazu eingeladen fühlt, durchs Haus zu streifen und alle Bilder anzusehen, trottet er zum Fenster und starrt durch das Dünengras hindurch. Von oben dringen keine Geräusche herunter– weder Geschrei noch sonst irgendetwas–, aber er ist sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist. Menschen lösen ihre Probleme anders als Syrena und selbst innerhalb ihrer Art völlig unterschiedlich. Sicher, die Königsfamilie neigt zu Jähzorn. Aber die meisten Syrena holen sich Hilfe von einer dritten Partei. Sie suchen sich einen Vermittler, der für Fairness sorgt. Menschen tun das nie. Sie lösen ihre Konflikte lieber mit Geschrei, Streit und manchmal sogar mit Mord– Rachel ist ein perfektes Beispiel dafür. Als er sie gefunden hat, war sie an einen Betonblock gefesselt, den jemand ins Meer geworfen hatte. Er war damals erst dreizehn Jahre alt, aber er erinnert sich noch genau daran, wie schnell sie sank, zappelnd wie ein lebendiger Köder, und wie sie trotz des Klebebands über ihrem Mund versuchte zu schreien. Und die Knoten. Er hat sich die Finger blutig gerissen, um diese Knoten zu lösen.
Als er sie ans Ufer brachte, hat sie ihn angefleht, sie nicht zu verlassen. Er wollte nicht bleiben, aber sie hat so heftig gezittert, dass er dachte, sie würde ohnehin sterben. Grom hatte ihn gelehrt, wie man ein Feuer macht– etwas, das die meisten Syrena erst lernen, wenn die Zeit gekommen ist, sich auf den Inseln zu paaren. Er hat ein paar Fische gefangen und sie gegrillt. Eine vorsichtige Neugier ließ ihn verweilen, während sie aß. Jeder andere erwachsene Mensch wäre vollkommen aus dem Häuschen gewesen, wenn er seine Flosse gesehen hätte. Aber Rachel nicht. Tatsächlich hat sie sie so gut ignoriert, dass er dachte, sie wäre ihr vielleicht gar nicht aufgefallen. Bis sie ihm erzählt hat, dass sie die letzten dreißig Jahre damit verbracht hat, die Geheimnisse anderer Leute zu hüten. Warum also nicht auch seins? Er ist die ganze Nacht bei ihr geblieben, während sie immer wieder einnickte. Am nächsten Morgen wollte er seiner Wege gehen, doch das ließ sie nicht zu. Sie hat darauf bestanden, sich für seine Hilfe zu revanchieren. Widerstrebend hat er zugestimmt.
Er hat sie gebeten, ihm im Gegenzug von den Menschen zu erzählen, und sich jede Nacht mit ihr am Strand getroffen, an einem Ort, den sie Miami nannte. Sie hat alle Fragen beantwortet, die ihm einfielen, und auch alle, auf die er gar nicht gekommen wäre. Als er das Gefühl hatte, dass sie ihre Schuld beglichen hatte, bestand er darauf, nun wieder getrennte Wege zu gehen. Das war der Moment, in dem sie anbot, seine Assistentin zu werden. Sie hat gesagt, dass er ihre speziellen Fähigkeiten brauchen würde, um wirklich genug über die Menschen zu lernen, um seine Art vor ihnen zu beschützen. Als er sie fragte, welche Fähigkeiten sie meine, hat sie einfach entgegnet: » Ich kann so ziemlich alles tun. Das ist der Grund, warum sie versucht haben, mich zu töten, Äffchen. Manche Menschen mögen es nicht, wenn man zu viel weiß.« Inzwischen hat sie unzählige Male bewiesen, was genau sie alles kann. Ihr gemeinsamer Insiderwitz ist, dass er der reichste Nichtmensch des Planeten ist.
Schritte im Treppenhaus holen ihn zurück in die Gegenwart. Er dreht sich um, als Emmas Mutter gerade den Essbereich betritt. Emma folgt ihr auf dem Fuß.
Mrs McIntosh gleitet auf ihn zu und legt den Arm um ihn. Das Lächeln auf ihrem Gesicht ist aufrichtig, während Emmas ganz schmal wird. Und sie errötet.
» Galen, ich freue mich sehr, dich kennenzulernen«, sagt sie und führt ihn in die Küche. » Emma hat mir erzählt, dass du sie heute zum Strand hinter deinem Haus mitnehmen möchtest. Wollt ihr schwimmen?«
» Ja, Ma’am.« Dass sie wie ausgetauscht ist, weckt seinen Argwohn.
Sie lächelt. » Na, dann viel Glück damit, sie ins Wasser
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