Der Kuss des Meeres
gering gehalten hatte. Sie setzt eine lässige Miene auf. » Also dann: Hilfst du mir, mich in einen Fisch zu verwandeln?«, fragt sie, als hätten sie schon die ganze Zeit über nichts anderes gesprochen.
Er blinzelt. » Das ist alles?«
» Was?«
» Keine Fragen mehr über das Sichten? Keine Vorträge über die Ernennung weiterer Botschafter?«
» Es geht mich nichts an«, sagt sie mit einem gleichgültigen Achselzucken. » Warum sollte es mich kümmern, ob du dich verbindest oder nicht? Und es ist ja nicht so, dass ich jemanden sichten würde – oder selbst gesichtet werde. Sobald du mir beigebracht hast, mir eine Flosse wachsen zu lassen, werden wir getrennte Wege gehen. Außerdem würde es dich ja auch nicht interessieren, wenn ich mit irgendwelchen Menschen gehen würde, richtig?« Mit diesen Worten lässt sie ihn einfach stehen und er starrt ihr mit offenem Mund hinterher. An der Tür ruft sie über ihre Schulter hinweg: » Wir treffen uns in fünfzehn Minuten am Strand. Ich muss noch meine Mom anrufen und meinen Badeanzug anziehen.« Sie wirft sich das Haar aus dem Gesicht, bevor sie die Treppe hinaufläuft und verschwindet.
Er dreht sich zu Rachel um, die schon seit einer halben Ewigkeit eine Pfanne abtrocknet. Ihre Augenbrauen kleben fast an ihrem Haaransatz. Galens Mund steht immer noch halb offen und er zuckt ratlos die Schultern. Sie seufzt. » Mein Äffchen, was hast du denn erwartet?«
» Auf jeden Fall etwas anderes als das.«
» Tja, das war ein Fehler. Wir Menschen-Mädchen sind eben ein wenig angriffslustiger als deine Syrena-Frauen– Rayna mal ausgenommen.«
» Aber Emma ist nicht menschlich.«
Rachel schüttelt den Kopf, als sei er ein Kind. » Sie ist als Mensch aufgewachsen. Das ist alles, was sie kennt. Aber die gute Nachricht ist, dass sie im Augenblick mit niemand anderem gehen kann.«
» Warum?« Für ihn hat es so geklungen, als zöge Emma das durchaus in Betracht.
» Weil sie so tut , als ob siemit dir geht. Und wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mein Territorium markieren, sobald ich wieder in die Schule komme– wenn du verstehst, was ich meine.«
Er runzelt die Stirn. Er hat nicht geplant, weiter in die Schule zu gehen. Sinn und Zweck der Übung war es, Emma an den Strand zu locken. Seit sie die Wahrheit kennt, gibt es keinen Grund, weiter die Schulbank zu drücken. Er hat nicht eingeplant, dass sie lernen müsste, eine Syrena zu werden. Und er hat erst gestern begriffen, dass sie wirklich dachte, sie sei ein Mensch. Tatsächlich gibt es eine ganze Liste von Dingen, die er nicht vorhergesehen hat und sie ist so lang wie seine Flosse– mindestens.
Zum Beispiel wie dick die Schulbücher sind. Rachel hat ihm im Laufe ihrer gemeinsamen Jahre Lesen und Schreiben beigebracht, aber was bitte soll er mit Mathematik oder Turnen anfangen? Menschliche Geografie ist völlig nutzlos für ihn. Was kümmert es ihn, wo die Menschen ihre unsichtbaren Landgrenzen ziehen? Höchstens Biologie könnte interessant sein. Und wenn Emma Geschichte mag, würde es nicht schaden, sich auch dieses Fach einmal anzusehen.
Galen will gar nicht abstreiten, dass es von Vorteil für ihn sein könnte, mehr über die Menschen zu lernen– aber nicht so, wie Emma es sich erhofft. Die Idee, ihnen seine Art zu offenbaren und Friedensbedingungen auszuhandeln, ist einfach lächerlich. Menschen können nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Art in Frieden leben. Und er hat gesehen, wie viel ihnen an den Lebewesen unterhalb des Meeresspiegels liegt– mit einem einzigen fahrlässigen Unfall haben sie ganze Gemeinschaften von Meeresbewohnern ausgelöscht. Oder einige Spezies unbarmherzig gejagt. Bis zu ihrer Ausrottung. Selbst in den Tagen von Triton und Poseidon, als Menschen und Syrena freundschaftlich nebeneinander existierten, brachten einige Menschen keinerlei Verständnis dafür auf, dass sie von den Meeren um sie herum abhängig waren. Das war der Grund, warum die beiden Generäle das Gesetz der Gaben erließen. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich ihre Voraussicht als unbezahlbar erwiesen. Als die Menschen immer bessere Techniken entwickelten, um die Ozeane in ihren großen Schiffen zu überqueren und schließlich sogar mit ihren Todesmaschinen bis in ihre Tiefen vorzudringen.
Aber Emma ist genauso naiv wie Rachel. Sie beharren beide auf einem einfachen Prinzip: Je mehr du über Menschen weißt, desto lieber wirst du sie mögen. Das ist einer der Gründe, warum Rachel ihn auch jetzt ermutigt, wieder
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