Der Kuss des Meeres
Fenster unseres Hotelzimmers auf den Golf von Mexiko. Nach dem heutigen Sturm sieht der weiße Strand aus wie gezuckerter Haferbrei. Der Regen durchlöchert den Sand und macht ihn klumpig. Wegen des Sturms, der uns im Flugzeug ein paar launische Turbulenzen beschert hat, ist Galen schlecht geworden.
Ich mustere das grässliche Sofa, auf dem er sich ausschläft. Seinem rhythmischen Schnarchen nach zu urteilen, ist das winzige Ding nicht so unbequem, wie es aussieht. Entweder das oder schwallartiges Erbrechen kostet so viel Energie, dass es einem egal ist, wo man anschließend zusammenbricht.
Die Sonne geht unter, aber es ist immer noch ein wenig Zeit, bevor wir uns im Gulfarium mit Dr. Milligan treffen. Er will, dass wir erst kommen, wenn das Gulfarium geschlossen hat, um sicherzustellen, dass wir bei den Untersuchungen völlig ungestört sind. Bis dahin sind es noch mal fünf Stunden.
Um die Zeit totzuschlagen, ziehe ich meinen Badeanzug an und gehe zum Strand, sorgfältig darauf bedacht, Galen nicht zu wecken. Er braucht Ruhe und außerdem brauche ich ein wenig Zeit zum Nachdenken. Hinzu kommt, dass durch den Regen nur vereinzelt Touristen unterwegs sind und es keine Zeugen geben wird, falls mir in einem ungünstigen Moment eine Flosse wächst.
Ich streife mein Shirt ab und wate ins Wasser. Ich weiß nicht, wie nah ich der Stelle bin, an der Chloe gestorben ist. Ich habe die Hotels um uns herum nicht erkannt, aber das Zimmer, das Rachel für uns gebucht hat, ist luxuriöser als das gerade so bezahlbare Zimmer, das Chloes Eltern reserviert hatten. Es spielt keine Rolle. Chloe ist nicht hier.
Und ich auch nicht, nicht wirklich. Zumindest bin ich nicht mehr dieselbe Emma, die mit Chloe hierhergekommen ist. Die Emma, die ihr wie ein weißer Schatten durch die Flure der Schule gefolgt ist. Die Emma, die einige Schritte hinter ihr geblieben ist, während sie wie eine Biene von Freundeskreis zu Freundeskreis geflitzt ist. Ein zartes, leicht zu vergessendes Phantom.
Ich frage mich, ob neben Chloes überlebensgroßer Persönlichkeit noch Platz für die verbesserte Emma wäre. Eine Emma, die ihre Mutter belogen hat, um mit einem seltsamen Fisch-Jungen in ein Flugzeug zu springen. Eine Emma, die schon bis zur Hüfte im Wasser steht, ohne dass auch nur ein Quäntchen Angst an ihren Nerven zehrt. Eine Emma, die eher einen Streit anzetteln würde, als einen zu schlichten. Vielleicht ist verbessert nicht das richtige Wort für mein neues Ich. Vielleicht trifft verändert die Sache besser. Am ehesten wahrscheinlich sogar abgestumpft.
Die Luft ist so feucht, dass man fast darin ertrinken könnte. Jede Sekunde erwarte ich, dass sich der Regen mit den Tränen mischt, die meine Wangen hinunterrinnen. So viel zum Thema Abgestumpft .
Ich tauche unter.
Der Golf ist ganz und gar nicht so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Natürlich liegt das daran, dass mir beim letzten Mal das Salz in den Augen gebrannt hat. Außerdem hat sich das Wasser kühl und erfrischend angefühlt im Vergleich zur drückenden Florida-Hitze. Jetzt ist das Wasser so lauwarm wie der Hotelwhirlpool, der Atlantik und jede Pfütze von hier bis nach Jersey.
Das ist beinahe so frustrierend wie Galens Katz-und-Maus-Spiel. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Spiel ist. Seiner Miene nach zu urteilen, tobt hinter seiner Fassade ein regelrechter Krieg. Er wagt einen Vorstoß und zieht sich sofort wieder zurück. Vorstoß, Rückzug. Wie eine Schlacht zwischen Gut und Böse. Und ich habe keine Ahnung, wo er es einordnet, mich zu küssen.
Wahrscheinlich unter Böse.
Wie armselig. Da sitze ich für die nächsten vierundzwanzig Stunden in einem Hotelzimmer fest, völlig ohne Aufsicht, mit einem Typen, der alles dafür tut, mich nicht zu küssen. Zauberhaft.
Ich befördere mein griesgrämiges Ich am abschüssigen Meeresboden entlang und mache mir einen Sport daraus zu zählen, wie viele Krabben ich so sehr verärgern kann, dass sie nach mir schnappen. Die meisten sind faire Sportsmänner und versuchen es. Selbst wenn sich tatsächlich eine in meinen Finger verbeißt, wird es nicht mehr wehtun als eine Wäscheklammer. Aber meine Strategie funktioniert nur, bis sich Galen und seine verführerischen Lippen in meine Gedanken zurückschleichen. Er ist wie der Club-Remix eines Songs, den ich schon im Original gehasst habe und der mir gleich beim ersten Hören nicht mehr aus dem Kopf geht. Einer, der immer wieder und wieder und wieder gespielt wird.
Ich
Weitere Kostenlose Bücher