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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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weißen Plastikstühle, um in einem Buch zu lesen. Offenbar fühlte er sich im Gang ungestörter als in seinem Bett.
    Ich rieb unruhig meine Hände aneinander. Vorhin, als Aurora von diesen Krämpfen geschüttelt wurde, hatte ich kurz überlegt, den Notarzt zu rufen. Aber dann hatte ich entschieden, so schnell wie möglich selbst ins Krankenhaus zu fahren.
    Unverzeihlich und fahrlässig erschien es mir jetzt, dass ich mir zuvor gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wo das nächste Krankenhaus überhaupt war und wie man im Notfall dorthin kam!
    »Fahren Sie am besten nach Bad Aussee.«
    Caspar von Kranichstein hatte mir das gesagt. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie er eigentlich reagiert hatte, als Aurora zusammengebrochen war – ob er erschüttert, gleichgültig oder vielleicht sogar angeekelt gewesen war. Wenn ich jetzt daran dachte, hatte ich fast das Gefühl, ein Lächeln hätte seinen Mund umspielt.
    Ich schüttelte den Kopf, der Gedanke war einfach nur lächerlich. Warum sollte er amüsiert sein, wenn ein kleines Mädchen von Krämpfen geschüttelt wurde und ihm weißer Schaum vor den Mund trat? Und immerhin, das fiel mir nun auch wieder ein, hatte er mir nicht nur den Weg zum nächsten Krankenhaus beschrieben, sondern auch vorgeschlagen, dass sein Chauffeur mich dorthin bringen könne. Ich hatte abgelehnt. Die Anwesenheit dieses fremden Menschen war mir in dieser Situation noch bedrohlicher, und ich wollte mit Aurora so schnell wie möglich allein sein und die Hilfe eines Arztes suchen.
    Wieder wurde eine Tür geräuschvoll geöffnet. Der weiße Mantel eines Arztes flatterte im Luftzug. Er kam mir bekannt vor; wahrscheinlich hatte er vorhin in der Notaufnahme Aurora untersucht. Als wir dort angekommen waren, hatte sie sich längst wieder beruhigt. Ihre Augen waren weiterhin starr aufgerissen gewesen – ein wenig so wie in ihrem Trancezustand –, aber die Krämpfe hatten nachgelassen, ihre Pupillen waren nicht mehr ins Weiße verrutscht, und ihr war kein weiterer Schaum aus dem Mund getreten.
    Der Arzt, der sich nun suchend umblickte, hatte mich gleich gefragt, ob sie nicht bloß weißen Schaum gespuckt, sondern sich auch übergeben hätte. Als ich antworten wollte, war mir vor Aufregung die Stimme weggeblieben. Ich hatte nur den Kopf geschüttelt und erst wieder sprechen können, als man mich aus der Notaufnahme fortgeschickt hatte. Ziemlich aufgebracht war meine Stimme schließlich herausgebrochen, als ich das Ansinnen ablehnte, Aurora hier allein zu lassen, bis mich eine Krankenschwester mit bestimmtem Griff an den Schultern gefasst und mich sanft hinausgeschoben hatte. Besänftigend hatte sie auf mich eingeredet, mir immer wieder versichert, dass man sich bestens um meine Tochter kümmern würde, ich aber nicht helfen könne, und ob es nun ihre einlullende Stimme war, der Druck ihrer Hand oder das Gefühl von Erschöpfung, das sich nach der Aufregung in mir ausbreitete – am Ende hatte ich mich beruhigt.
    Jetzt stürzte ich auf den Arzt zu.
    »Wie geht es meiner Tochter?«
    »Sophie Richter?«
    Er betrachtete mich mit nachdenklicher Miene, in der – ich konnte es nicht anders deuten – Skepsis stand und auch der Anflug von Ärger. »Wir haben zuerst ein CT gemacht, dann, als nichts dabei herauskam, ein EEG «, erklärte er. »Kein Befund.«
    »Was heißt das?«
    Er seufzte. »Keine Gehirnerschütterung, keine Gehirnblutung, kein Verdacht auf Epilepsie. Den Blutzuckerwert haben wir auch gemessen, alles im grünen Bereich. Hat Ihre Tochter wirklich weißen Schaum gespuckt?«
    Glaubte er mir etwa nicht? Ich meinte mich daran erinnern zu können, dass ich ihr den Mund abgewischt hatte, als wir das Krankenhaus erreicht hatten.
    »Natürlich!«, rief ich energisch. »Ich habe es Ihnen doch gesagt!«
    »Hat sie vorher schon mal so einen … Anfall gehabt?«, fragte er. Er dehnte das Wort ›Anfall‹. Bei seinen Kollegen würde er womöglich nicht von einem Anfall, sondern von der Einbildung einer hysterischen Mutter sprechen.
    »Nein, nie.« Ich überlegte kurz, ob ich Auroras merkwürdige Trancezustände erwähnen sollte, aber sein Gesicht war so abweisend, dass ich den Zeitpunkt ungenutzt verstreichen ließ.
    »Ihrer Tochter fehlt nichts, überhaupt nichts«, erklärte er.
    »Muss sie … muss sie hierbleiben?«, fragte ich.
    Er kritzelte etwas auf ein Krankenblatt. »Wüsste nicht, warum. Selten ein so gesundes Kind gesehen. Beste Werte, alles in Ordnung, nicht einmal eine

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