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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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versuchte, mir meine widersprüchlichen Gefühle – Beklommenheit, aber auch Faszination – nicht anmerken zu lassen, sondern erklärte rasch: »Ich freue mich, dass Sie hier vorbeikommen. Die Villa liegt doch ziemlich abseits. Es ist gut zu wissen, wer in der Nähe wohnt.«
    »Es ist der richtige Ort, wenn man ein bisschen Ruhe haben will, nicht wahr? Glücklicherweise fernab vom Zentrum. Wenn ich nur an diese Touristenmassen denke, die durch Hallstatt strömen … « Seine Mundwinkel zuckten angewidert.
    »Ja«, sagte ich schlicht. »Ja, hier ist es sehr ruhig.«
    »Allerdings ertragen nicht viele Menschen diese Einsamkeit. Im Ernstfall ist niemand zur Stelle.«
    Ich war mir nicht sicher, was er damit meinte, und erwiderte nichts.
    Schweigen breitete sich aus. Eine Weile starrte ich ihn wie gebannt an, dann riss ich mich von seinem dunklen Blick los. Ich sah, dass der Chauffeur immer noch steif neben dem Auto stand, doch er war nicht länger allein. Eine jüngere Frau und ein Mann waren aus dem Auto gestiegen, beide ebenso dunkel gekleidet wie Caspar.
    »Meine Assistenten«, erklärte er knapp.
    Ich erinnerte mich daran, was Josephine mir erzählt hatte – dass er Seminare und Schulungen für Manager anbot.
    Er stellte mir seine Assistenten nicht namentlich vor und machte ebenso wenig Anstalten zu gehen.
    »Das ist übrigens meine Tochter Aurora«, sagte ich rasch, um das unangenehme Schweigen zu brechen, »und ich muss jetzt auch wieder … «
    »Ich weiß«, fiel er mir abrupt ins Wort.
    Mit seinem federnden, leisen Gang trat er ganz dicht an das Gartentor heran.
    Woher wusste er von Aurora? Hatte mein Vater ihm von ihr erzählt?
    Seine blasse Haut erschien mir aus dieser Nähe noch weißer; die dunklen Augen noch schwärzer. Plötzlich hob er die Hand. Ich dachte, er wollte sie mir zum Gruß reichen, doch er hatte anderes im Sinn.
    »Aurora«, sagte er, nicht länger mit dieser metallischen Stimme, sondern werbend, fast schon zischelnd wie eine Schlange. »Die Göttin der Morgenröte.«
    Unvermittelt senkte er seine Hand auf ihre rötlich braunen Locken, streichelte sanft darüber und ließ nun auch seinen Blick auf ihr ruhen.
    Kurz schien es, als wären wir alle drei in Stein gehauen – keiner rührte sich, keiner schien auch nur zu atmen. Doch dann begannen meine Knie zu zittern. Ich hatte plötzlich Auroras panische Stimme im Ohr, wie sie an jenem ersten Abend geflüstert hatte: »Er ist da«, und riss mich aus der Starre.
    »Es tut mir leid, aber ich habe nun zu tun.« Ich klang unfreundlicher, als ich es beabsichtigt hatte. Caspar von Kranichstein reagierte nicht; er nahm seine Hand nicht von Auroras Haaren, also verstärkte ich den Druck auf ihren Schultern und zog sie zurück.
    In diesem Augenblick fing es an. Ohne jede Vorwarnung begann Auroras kleiner Körper zu beben und zu zucken. Ich wollte sie tröstend umarmen, weil ich dachte, diese merkwürdige Situation würde sie verängstigen und dieses Zittern verursachen, doch plötzlich sackte sie auf ihre Knie, ihr Oberkörper kippte zur Seite und ihr Kopf schlug hart auf dem Boden auf. Ihre Augen waren weit aufgerissen, dann verdrehten sich ihre Pupillen, bis nur noch das Weiße zu sehen war.
    »Aurora!«
    Sie zitterte nicht einfach nur, ihr ganzer Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Die Glieder verrenkten sich unnatürlich, ihre Zähne rieben aufeinander, ihr Atem ging rasselnd und stoßweise.
    »Aurora!«, schrie ich wieder.
    Ihr Kopf bog sich immer weiter nach hinten. Ich versuchte ihn zu halten, zu stützen, doch die Krämpfe waren stärker. Zwar lösten sich ihre Zähne endlich voneinander, aber nun trat weißer Schaum aus ihrem Mund und lief über ihr Kinn.

IV .
    Rastlos ging ich im Gang des Krankenhauses auf und ab. Es roch durchdringend nach Desinfektionsmittel, und mit der Zeit überkam mich leichte Übelkeit. Ich bediente mich an einem Wasserspender, doch das Wasser war lauwarm und abgestanden. Ich brachte nur einen Schluck hinunter, und meine Hände zitterten, als ich den halbvollen Plastikbecher wegwarf.
    Niemand schien mich wahrzunehmen. Ärzte und Krankenschwestern liefen an mir vorbei, Türen öffneten sich und fielen wieder zu. Eine Besucherin führte mit ungeduldigem Blick eine ältere Dame im Bademantel auf und ab und stieß ihre Absätze so energisch in den Boden, als könnte sie dadurch erreichen, dass die alte Frau schneller ging. Ein Patient kam aus einem der Krankenzimmer und setzte sich nicht weit von mir auf einen der

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