Der Kuss des Morgenlichts
keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte, dass Aurora so viel wusste, was sie unmöglich wissen konnte, dass ich mein eigenes Kind nicht verstand, ja schlimmer noch, dass mir mein eigenes Kind fremd geworden war. Aber wenn ich auch Auroras Verhalten nicht beeinflussen konnte – etwas anderes konnte ich durchaus tun.
Caspar von Kranichstein … alles hatte mit ihm zu tun …
Seit er aufgetaucht war, Aurora berührt und sie diesen Krampfanfall hatte, war sie deutlich verändert.
Dass ihre Trancezustände nichts mit ihm zu tun haben konnten und schon viel früher eingesetzt hatten, bedachte ich in diesem Augenblick nicht. Hauptsache, ich war nicht zur Tatenlosigkeit verdammt! Gegen Caspar von Kranichstein konnte ich vorgehen!
Ich würde ihn kein zweites Mal persönlich darum bitten, uns fernzubleiben, aber mir war etwas anderes eingefallen, um genau das zu erreichen, und ich wollte keine Zeit mehr verstreichen lassen, diesen Entschluss vielmehr sofort umsetzen.
Ich drückte aufs Gas, ließ die Villa hinter mir und erreichte das Waldstück. Bis jetzt war ich diese steile Strecke immer sehr vorsichtig gefahren, nun nahm ich die erste Kurve etwas zu schnell. Die Reifen kreischten auf, als ich von der Fahrbahn abkam, das Auto schlingerte, als ich mit aller Macht auf das Bremspedal drückte. Der Gurt schnitt sich schmerzhaft in meinen Körper und raubte mir den Atem. Obwohl ich mit beiden Händen das Lenkrad umklammerte, hatte ich für kurze Zeit keine Kontrolle über den Wagen. Die Bremsen röhrten, aber das Auto fuhr weiter. Wieder und wieder trat ich mit dem Fuß auf das Pedal, versuchte gegen das Schlingern zu steuern, kam aber nicht gegen diese unsichtbare Macht an, die dagegenhielt. Dann endlich, Ewigkeiten später, stand der Wagen still. Sämtliche Geräusche verstummten. Ich öffnete den Gurt, atmete tief durch und ärgerte mich über meine Fahrlässigkeit. Wie verrückt, so schnell in die Kurve zu fahren!
Ich blickte in den Seitenspiegel, stellte fest, dass ich unglaubliches Glück gehabt hatte. Die rechten Vorderund Hinterreifen waren von der Straße abgekommen und auf dem Waldboden gerutscht, doch auf dieser Seite war die Böschung nicht besonders tief; ganz anders sah es auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Über diese Seite hinauszuschlittern hätte bedeutet, einen Steilhang nach unten zu stürzen und gegen die Bäume zu krachen.
Ich atmete wieder tief durch, legte den Rückwärtsgang ein und drückte – diesmal äußerst behutsam – auf das Gaspedal. Der Hinterreifen drehte ein paarmal durch, fuhr schließlich knirschend über den Waldboden und erreichte wieder die Straße. Doch kaum auf sicherem Grund, erschrak ich dermaßen, dass ich zurückgezuckt war und beide Füße von den Pedalen gezogen hatte, so dass das Auto einen jähen Ruck machte und der Motor erstarb.
Ich zog die Handbremse an, starrte angestrengt nach draußen und öffnete langsam die Autotür. Nein, meine Augen hatten mich nicht getäuscht … dort hing etwas Rotes … zwischen den dunklen Ästen … ein Stück Stoff, der einen ziemlich zerfetzten Eindruck machte.
Ich konnte meine Augen nicht davon lassen. Dass ich ausgerechnet hier zum Stehen gekommen war, schien plötzlich kein dummer Zufall mehr zu sein.
Zögernd stieg ich aus, blickte mich um. Kein menschliches Geräusch war zu vernehmen, nur der Wind fuhr stöhnend durchs Geäst, ein Vogel schrie. Magisch zog mich der rote Farbtupfer an, einem Zeichen gleichend, das nur für mich bestimmt war. Schritt für Schritt entfernte ich mich vom Auto, ging tiefer in den Wald hinein, in dessen dichtem Geäst das letzte Licht des Tags erlosch, dann hatte ich den Baum erreicht, in dem der Stoff hing. Obwohl zerrissen, konnte ich nun deutlich ein T-Shirt erkennen, seiner Größe nach zu schließen, das eines Mannes. Der Wind hatte es wohl in die Luft gewirbelt, so dass es zwischen den Ästen hängen geblieben war.
Vielleicht, überlegte ich, hatte irgendwer in der Nähe Wäsche zum Trocknen aufgehängt, das T-Shirt hatte sich gelöst und war hierhergeweht worden …
Der rote Stofffetzen war nicht länger bedeutungsvoll. Von wegen ein Zeichen!
Kopfschüttelnd wandte ich mich ab, blickte nun nicht länger auf das T-Shirt, sondern auf den Waldboden – und erstarrte entsetzt. Der Wald schien nun noch dunkler geworden zu sein. Die raschelnden Blätter der Laubbäume, die spitzen Nadeln der Tannen, die gefurchte Rinde der Stämme – all das war nicht länger grün oder braun,
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