Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
zurück, dann schüttelte er den Kopf. »Zumindest ist er noch am Leben, das wissen wir. Komm – alle werden sich freuen, dich zu sehen. Das ist eine angenehme Ablenkung von all unseren Sorgen.«
Er trat auf sie zu, griff nach ihrer Hand und führte sie in den Ostflügel, zu einer Stelle, wo er sich in zwei weitere Flügel gabelte. Niemand war zu sehen oder zu hören, auch dann nicht, als sie die große Halle erreichten. Alys legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die hohe, gewölbte Decke und die mit einer Wellen schlagenden, sich ständig verändernden Farbe gestrichenen Wände. Wolfer drehte sich um und sang dann mit seinem Bass einen einzelnen Ton.
» Evanor! «
» Ja, o Bruder mit der tiefen Stimme? «
»Ev, wir haben einen Gast«, erklärte Wolfer, wohl wissend, dass der ˒Kommunikationsmagier˓ unter ihnen nun, wo er seine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hatte, zuhören würde. »Ich hätte gerne, dass ihr alle sie begrüßt. Wir sind unten in der großen Halle.«
» Sie? «, sang Evanor mittels Magie in sein Ohr. Darauf folgte Stille, aber Wolfer konnte sich nur zu gut vorstellen, dass jetzt die Ohren seiner Brüder und seiner Schwägerin förmlich klingelten. Und tatsächlich ertönten eine halbe Minute später aus allen Richtungen hastige Schritte.
Alys schrak zusammen, als sie die vielen auf sie zueilenden Menschen hörte. Wolfer legte einen Arm um sie und drückte sie aufmunternd, so, wie er es getan hatte, als sie jung waren und sie vor einem neuen Abenteuer seiner Brüder zurückgeschreckt war. Sie pflegte dann stets einen Moment zu zaudern, ehe sie all ihren Mut zusammennahm und mitmachte, und diese kurze Umarmung hatte ihr bei ihrer Entscheidung geholfen.
Sie zog noch immer Trost aus seiner Berührung, als eine Frau mit rotgoldenem, schulterlangem Haar – ein Farbton, der etwas heller war, als sie Trevans Haar in Erinnerung hatte – auf den Balkon links über ihnen gestürzt kam, sich über das Geländer beugte und zu ihnen hinunterspähte. Das musste die Schwägerin sein. Alys kniff die Augen zusammen. Zwischen den Geländersäulen hindurch konnte sie erkennen, dass die Frau eine leuchtend grüne Tunika trug – ein viel lebhafteres Grün als das eines Gewandes, das Alys zurückgelassen hatte – und Hosen. Sie trägt Hosen wie ein Mann!
Schockiert und fasziniert zugleich sah Alys zu, wie die Frau sich wieder von dem Geländer abstieß und weitere Personen in Sicht kamen. Ein Mann mit kastanienbraunem Haar, an den sie sich recht gut erinnerte, obwohl er erwachsen geworden war, stürmte in die Halle. Er kam schliddernd auf den polierten Fliesen zum Stehen, musterte sie und lächelte. In seinen haselnussbraunen Augen blitzte kein Anzeichen dafür auf, dass er sie erkannte.
»Hallo, hübsche Lady. Wen haben wir denn da?«, fragte Koranen freundlich.
Der andere Rotschopf in der Familie, der mit den sonnengebleichten kupfergoldenen Locken, trat unter einem anderen Bogen hervor. »Seid gegrüßt! Willkommen auf Nightfall, schöne Maid. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Euch den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen.«
Das war Trevan – immer der glattzüngige Schmeichler. Seinem neugierigen Blick nach zu urteilen erinnerte er sich gleichfalls nicht mehr an sie. Wolfer quittierte die Flirtversuche seines Bruders mit einem leisen Grollen, das aber nur einen kurzen Moment anhielt.
Ein weiterer Bruder betrat die Halle. Er war hellblond, hatte braune Augen und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. Evanor, dachte Alys. Er runzelte kaum merklich die Stirn, ganz offensichtlich meinte er, sie zu kennen, obwohl er sie noch nicht einordnen konnte.
Die Frau mit den schulterlangen rotblonden Haaren gesellte sich mit dem ältesten Bruder an ihrer Seite zu ihnen. Sein Haar wies denselben dunkelgoldenen Farbton auf wie das von Alys, war aber glatt und nicht wild gelockt. Saber, Wolfers älterer Zwilling. Er zwinkerte, starrte sie an, machte Anstalten, etwas zu sagen, und schüttelte dann den Kopf. Und noch jemand fand sich ein, aber nicht der Bruder, der ihrer Erinnerung zufolge den Tag mied. Rydan würde sie erst nach Sonnenuntergang begrüßen, da war sie sicher. Aber mit dem jüngsten der acht Brüder verhielt es sich anders.
»Alys!« Morganen eilte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
Alys löste sich aus Wolfers Umarmung und warf sich in seine Arme. »Morganen!«
Ihre Kehle war wie zugeschnürt, Tränen brannten in ihren Augen und drohten ihr über die
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