Der Kuss Im Kristall
sprudelten sie nur so hervor. „Tante Henrietta ist tot.“
Dianthes Tasse klapperte auf der Untertasse, und behutsam stellte sie sie auf den Teetisch. Sie wirkte bewundernswert gefasst und faltete die Hände im Schoß. „Wie bitte?“
„Am Tag vor deiner Ankunft in London starb Tante Henrietta.“
„In Griechenland, auf dem Weg nach Hause?“
„In London. In ihrem Salon, wo sie wahrsagte. Sie war nie eine Reisebegleiterin, Dianthe. Wir haben das dir gegenüber nur behauptet, um deinen Stolz nicht zu verletzen. Wir wollten nicht, dass du weißt, wie wir es schaffen, dir diese Londoner Saison zu ermöglichen. Und auch Bennett sollte nicht wissen, woher sein Schulgeld für Eton stammte.“
Eine ganze Weile herrschte Schweigen, und Alethea sah, dass Dianthe versuchte, ihren Kummer unter Kontrolle zu halten. Wie tapfer das Mädchen war! Alethea konnte ihre Schwester nicht genug bewundern.
„Ich erinnere mich an die Zigeunerin, die uns lehrte, die Karten zu lesen, Binky. Sie lachte immer, als wüsste sie mehr als wir. Als du ihr sagtest, dass du nicht an Zauberei glaubst, meinte sie, eines Tages würdest du daran glauben. Mir bereitete es ein großes Vergnügen, wenn Tante Henrietta für mich die Karten legte. Es überrascht mich nicht, dass sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Und, Binky, ich verstehe, warum du nicht wolltest, dass ich es erfahre. Aber ich wünschte, ihr hättet mir vertraut. Ich hätte helfen können. Und ich hätte niemals so viel Geld für Kleider und dergleichen ausgegeben. Aber mich verwirrt, warum du mir vorenthalten hast, dass sie tot ist.“
„Dafür gibt es ein Dutzend Gründe. Wir haben so schwer dafür gearbeitet, bis hierher zu kommen, und ich befürchtete, du würdest trauern und dich aus der Gesellschaft zurückziehen, wenn du erfährst, dass man sie umgebracht hatte.“
„Umgebracht?“ Dianthe hob eine Hand an ihre Kehle. „Als du sagtest, sie ist gestorben, dachte ich, du meinst einen Unfall. Aber umgebracht? Oh! Wer würde so etwas tun?“
„Wir haben leider keine Ahnung. Deswegen habe ich ihren Platz eingenommen. Um es herauszufinden.“
„Du hast ihren Platz eingenommen? Als Tante Henrietta?“ Dianthe blinzelte.
„Als Madame Zoe“, gestand Alethea.
„Du bist Madame Zoe? Die berüchtigte Wahrsagerin?“
Sie nickte. „Und vor mir war es Tante Henrietta.“
„Gütiger Himmel! Das musst du sofort den Behörden erzählen!“, rief sie.
„Das habe ich vor. Innerhalb der nächsten Stunde – und ich werde mit Lord Barrington anfangen. Aber zuerst wollte ich es dir sagen.“ Sie warf einen Blick zu Grace in der Hoffnung, etwas Unterstützung zu erlangen, und sie wurde nicht enttäuscht. Ihre Tante nickte ihr ermutigend zu.
„Die arme Tante Henrietta.“ Da sie kein Taschentuch hatte, weinte Dianthe in ihre Serviette. „Oh, Binky, das bricht mir das Herz.“
„Ich weiß, Dianthe. Es tut mir so leid, aber es ist alles noch schlimmer.“
„Bennett? Oh! Sag nicht, dass es Bennett betrifft.“
„Nein, Bennett ist wirklich während der Ferien in Devonshire. Es geht um mich, Di. Ich habe – Dinge getan, die Schande über die Familie bringen. Es wird einen Skandal geben. Du und Bennett und …“ Sie begegnete Graces geduldigem Blick. „… und Tante Grace, ihr werdet wegen meines Verhaltens leiden müssen.“
„Ich bin sicher, du übertreibst, Binky. Ich kenne dich. Ich weiß, du könntest niemals etwas …“
„Ich habe mit Robert McHugh das Bett geteilt.“
Dianthe blieb der Mund offen stehen, und sie sank in ihrem Stuhl zurück, als hätte man sie geschlagen. „Er – er wird dich natürlich heiraten?“
Alethea schüttelte den Kopf. „Er wurde wegen Mordes eingesperrt.“
Dianthe war sprachlos. Ein paarmal öffnete sie den Mund und schloss ihn wieder, aber es drang kein Laut über ihre Lippen.
„Er hat niemanden umgebracht, Di, aber wenn ich nicht spreche, wird man ihn hängen. Ich war mit ihm in Madame Zoes Salon zusammen, als Lord Kilgrew ermordet wurde. Natürlich muss ich das den Behörden mitteilen, ungeachtet der persönlichen Konsequenzen.“
Grace lächelte. „Du bist sehr tapfer, Alethea. Ich bewundere deine Integrität.“
„Die Lovejoys werden zum Gespött der Leute werden“, flüsterte Dianthe, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Mit weit aufgerissenen blauen Augen starrte sie Alethea an. „Nun, zumindest wird der ton uns nicht so bald vergessen.“
Gegen ihren Willen musste Alethea lachen, und dann
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