Der Kuss Im Kristall
beidem seinen Zorn mehr anstachelte. „Zum Beispiel so etwas“, stimmte er zu.
Sie murmelte etwas Unverständliches, erhob sich und ging zu einer Schachtel, die auf dem kleinen Sekretär stand. Sie betrachtete erst die Schachtel und dann ihn. Endlich öffnete sie sie und nahm etwas heraus. Dann trat sie zu ihm und öffnete ihre Faust.
Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. „Woher hast du das?“
„Es gehört also dir?“, fragte sie.
Er nickte. „Ich habe es nicht mehr gesehen, seit – seit ich von London nach Algerien aufbrach.“
Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Schultern sanken nach vorn. „Himmel“, flüsterte sie. „Ich habe einem Schatten nachgejagt.“
„Woher hast du das, Alethea?“
„Ich …“ Sie schaute ihn an. „Ich habe es gefunden.“
„Wo?“, wollte er wissen. „Sage mir, wo.“
Widerstrebend deutete sie auf eine Stelle unter dem Tisch.
„Hat einer deiner Klienten es verloren?“
„Ja. Vermutlich.“
„Wer? Wer war es?“ Er erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, wie verwirrt sie war.
„Ich wollte, ich wüsste es, McHugh.“
Er glaubte ihr. „Was meinst du mit ‚einem Schatten nachjagen‘?“
„Ich habe versucht herauszufinden, wer der Besitzer dieser Nadel ist.“
„Und warum jagst du deswegen einen Schatten?“
„Weil du die ganze Zeit hier warst. Vor meiner Nase.“ Sie wich vor ihm zurück, wirkte misstrauisch und unsicher. Sie warf ihm einen schuldbewussten Blick zu, und er begriff, dass sie mehr wusste, als sie verriet.
„Du erzählst mir besser alles, Alethea. Sonst gibt es für mich keinen Grund, dein Geheimnis zu bewahren.“
Sie rieb sich die Schläfen, als hätte sie heftige Kopfschmerzen. Er beobachtete, wie sie innerlich mit sich rang, ehe sie schließlich seufzte und sich fügte. „Wer immer das hier gelassen hat, er hat meine Tante Henrietta umgebracht.“
Mit allem hatte er gerechnet, nur damit nicht. „Wann?“
„Vor knapp drei Wochen.“ Sie musterte ihn forschend, und ihre nächsten Worte klangen wie eine Anklage. „Ungefähr zur selben Zeit, als du wieder in England eintrafst.“
Er lächelte. Er musste zugeben, dass die Umstände gegen ihn sprachen. „Du glaubst also, ich hätte versehentlich deine Tante Henrietta umgebracht und wäre dann deinetwegen zurückgekommen?“
Wieder runzelte sie die Stirn. „Du hast mehrfach angekündigt, du wolltest mich vernichten, McHugh. Ist das nicht die absolute Zerstörung? Wurde nicht beide Male dein Rabenzeichen gefunden?“
Sie hatte gute Argumente. Und er konnte kein Alibi vorweisen für die Zeit, in der die Morde an Livingston und an Eloise begangen worden waren. „Wie ich schon sagte, Alethea, wenn ich deinen Tod wollte, dann wärest du tot.“
„Vielleicht“, meinte sie.
„Aber wo ist die Verbindung? Henrietta, Eloise, du – ist es die Wohnung? Oder hat jemand deine Tante umgebracht in dem Glauben, es handelte sich um dich?“
„Oder anders herum, McHugh. Jemand könnte versucht haben, mich umzubringen, in dem Glauben, es wäre meine Tante. Auf diese Weise hoffte ich auch den Mörder fangen.“ Sie holte tief Luft und straffte die Schultern. „Aber wie auch immer, das Ergebnis ist dasselbe. Ich bin entschlossen, den Mörder von Tante Henrietta zu überführen.“
Er lächelte finster. „Ich will Eloises Mörder finden und damit auch denjenigen, der mich ans Messer liefern will. Wie es scheint, könnte es sich dabei um ein- und denselben Mann handeln.“
„Ja. So sieht es aus“, stimmte Alethea zu. Sie streckte den Arm aus, um sich auf einen der Stühle zu stützen. Er fühlte einen Anflug von Schuldbewusstsein, als er sich erinnerte, dass sie in den letzten Stunden einiges durchgemacht hatte – zuerst der Angriff auf ihr Leben, und dann der auf ihre Tugend.
„So“, sagte er leise. „Zumindest haben wir etwas gemeinsam.“
„Ja?“
„Einen Feind.“
Sie setzte sich benommen.
„Bis ich das hier geklärt habe, werde ich keine Zeit für dich haben, also hast du jetzt eine Gnadenfrist gewonnen. Inzwischen wirst du weder die Zukunft vorhersagen noch hierher kommen. Verstehst du?“
„Ich glaube, du verstehst nicht, McHugh“, entgegnete sie und wischte sich mit dem Ärmel über die geröteten Augen. „Ich habe mich bemüht, den Mörder meiner Tante zu entlarven. Damit werde ich nicht aufhören, nur weil du mir in die Quere geraten bist. Ich bin jetzt überzeugt, dass meine Wahrsagerei der Schlüssel zu der Lösung dieses Falls ist.“
Der
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