Der Kuss Im Kristall
Bekannte oder Fremde. Das unerwartete Abenteuer erfüllte sie mit Erregung. Wenigstens tat sie etwas, um das Rätsel zu lösen. Das Gefährlichste, was sie bislang riskiert hatte, war, als Madame Zoe aufzutreten, aber mit McHugh an ihrer Seite fürchtete sie nichts.
„Woher weißt du, wohin wir uns wenden müssen?“
„Da die Sache dringend ist, hielt ich es für das Beste, einen Detektiv anzuheuern. Er informiert mich über die Schritte der Verdächtigen, über ihre Termine und Verabredungen.“
Sie dachte an Mr. Renquist und daran, wie nützlich er der Mittwochsliga über die Jahre hinweg gewesen war. Ja, es war klug von McHugh, einen Detektiv zu engagieren. „Wen verfolgen wir?“, fragte sie.
„Sei still, Alethea, und auf alles gefasst.“
Auf der Straße winkte er eine Kutsche herbei und nannte eine Adresse in der St. James Street. McHugh setzte Alethea hastig in Kenntnis darüber, was sie jetzt vorhatten, und erklärte ihr eindringlich eine Reihe an Vorsichtsmaßnahmen für den Fall, dass sie enttarnt werden würden oder dass irgendetwas Schlimmes passierte.
„Wenn ich dir sage, du sollst etwas tun, dann befolge meine Worte sofort. Ich werde keine Zeit haben, dich zu verhätscheln, verstanden?“
Sie nickte, ein wenig gekränkt, weil er meinte, sie könnte verhätschelt werden wollen. „Mach dir um mich keine Sorgen, McHugh. Ich kann selbst auf mich aufpassen“, sagte sie zu ihm, als die Kutsche an der Ecke St. James Street und Piccadilly anhielt.
Er half ihr beim Aussteigen, bezahlte den Kutscher, nahm Aletheas Arm und geleitete sie dann in den Schatten der Häuser. Aus Erzählungen wusste sie, dass diese Straße so etwas wie eine Bastion englischer Männer des ton war. In der St. James Street befanden sich die besten Clubs Londons, und jeder Mann, der etwas auf sich hielt, war in einem davon Mitglied.
„Welches ist deiner?“, erkundigte sie sich im Flüsterton.
„White’s“, antwortete er, dem klar war, was sie meinte.
„Und welchen beobachten wir?“
„White’s.“
Sie verstummte, ein wenig verärgert darüber, dass er so wortkarg war. Offensichtlich hatte er sie nur mitgenommen, um ein Auge auf sie zu haben, und nicht, um gemeinsam mit ihr die Angelegenheit aufzuklären. Sie würde ihm schon noch beweisen, dass sie eine große Hilfe sein konnte und nicht ein kleines Mädchen, das man beschützen musste.
So spät gab es nur wenig Verkehr, und die gelegentlich vorbeiflanierenden Passanten vermittelten ein Gefühl von Normalität. Einmal, als jemand ganz nahe vorüberging, zog McHugh sie an sich, als wären sie ein Liebespaar. Sie sah zu ihm auf, und einen Moment glaubte sie, er wollte sie küssen. Aber dann ließ er sie wieder los und trat zurück.
Nach einer Viertelstunde verließ eine schlanke Gestalt den Club und begab sich schnell in Richtung Piccadilly. McHugh bedeutete Alethea, ihm zu folgen. Eine weitere Rechtskurve führte sie in Richtung des Parlaments. Alethea war froh, wieder unterwegs sein zu können. Die Kälte hatte ihre Hände und Füße betäubt, und durch den flotten Marsch wurde ihr bald warm. Sie fragte sich, ob er wohl eine Kutsche rufen würde, doch er ging weiter und wandte sich nach rechts zur Cockspur Street nach Charing Cross.
In der Dowing Street betrat der Mann ein Privathaus. Wieder zog McHugh sie in die Schatten. Minuten verstrichen, und Alethea verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, während McHugh kaum einen Muskel regte. Kein Fußgänger bemerkte sie in der Dunkelheit.
„Wie kannst du so still stehen?“, flüsterte sie.
Er neigte den Kopf, doch in der Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. „Übung“, erklärte er. „Monate in einem Gefängnis, in dem ich mich nicht rühren konnte. Meine Kiste war ungefähr so groß wie ein englischer Sarg.“
Sie unterdrückte einen Aufschrei. Er musste sich gefühlt haben, als hätte man ihn lebendig begraben. Kein Wunder, dass er enge Räume wie die Kammer unter der Treppe in Graces Haus so hasste. Aber wenn die Bedingungen derart hoffnungslos gewesen waren … „McHugh, wie konntest du fliehen?“, fragte sie.
Er umfasste ihre Schultern fester, bückte sich und raunte ihr ins Ohr. „Um dir diese Geschichte zu erzählen, müsste ich sehr betrunken sein, Alethea. Frag mich nicht mehr danach.“
Ein Frösteln durchlief sie, das nichts mit dem kalten Wetter zu tun hatte. Nein, sie würde nicht mehr fragen. Sie vermutete, dass die Antwort sie zutiefst erschrecken würde.
Sie
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