Der Kuß von Sentze
Hiltiburg. Ich zeigte ihr die
Bücher der Moose und unterrichtete sie ein wenig. Ich be-
lehrte sie auch über andere Pflanzen, die ihrem Vater an-
genehm sein konnten. Ich zeigte ihr auch meine Bücher, in
denen ich las, und lieh ihr einige auf ihr Verlangen.
So lebte ich dahin.
Ich las oft in einem meiner Bücher oder saß auf einem
Steinblocke und betrachtete das Dämmern der fernen Wäl-
der oder sah Hiltiburg nach, wenn sie aus der Umzäunung
hinaus ging, und wenn sie zurück kam, heftete sie die Au-
gen auf mich. Meinem Vetter suchte ich Aufmerksamkei-
ten und Freude zu bereiten, wie ich nur immer konnte.
Als der tiefe Herbst eingetreten war, sagte eines Tages
mein Vetter zu mir: „Rupert, du weißt, welchen Wunsch
dein Vater in Hinsicht der zwei jüngsten und einzigen
Zweige unseres Geschlechtes hatte, in Hinsicht deiner und
in Hinsicht Hiltiburgs. Ich hatte den nämlichen Wunsch.
Weil aber dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen konnte,
so ist jetzt ein anderer an seine Stelle getreten. Aus dem
Verhältnisse zwischen Hiltiburg und dir glauben wir die
Veranlassung zu erkennen, daß ihr euch den Friedenskuß
der Palsentze gebet, welcher das Versprechen enthält, daß
eines dem andern kein Übel zufügen werde. Dein Vater
hat mir geschrieben, daß du zu dem Kusse eingewilligt
hast. Ich habe mit Hiltiburg gesprochen, sie hat auch ein-
gewilligt. Ist es dir genehm, so zeige mir den Tag an, mit
welchem du die Vorbereitungen dazu beginnen willst. Du
weißt, daß diese Vorbereitungen darin bestehen, daß man
drei Tage mit einem Gebete, mit Betrachtungen über den
Schwur und mit Lesung der Schwurschriften hinbringe.
Hiltiburg wird an dem nämlichen Tage die Vorbereitungen
antreten. Ich habe von den vorhandenen Schwurschriften
zwei Abschriften in dem Hause. Eine werde ich dir, eine
Hiltiburg geben. Und am Morgen nach dem dritten Tage
leistet ihr in dem Saale, ohne einen einzigen Zeugen als
Gott, wie es vorgeschrieben ist, das Versprechen.“
Ich antwortete auf diese Rede: „Lieber Vetter, wenn
nichts dagegen ist, so werde ich morgen die Vorbereitun-
gen beginnen, frage Hiltiburg über die Angelegenheit noch
einmal.“
„Ich werde sie fragen“, antwortete er.
Gegen den Abend sagte er zu mir: „Hiltiburg ist nicht
dawider, und so beginnt.“
Er gab mir ein Päckchen Papiere, das mit seidenen Bän-
dern umwunden war.
Dann kam das Abendessen, es war stille, und wir trenn-
ten uns bald.
Am andern Morgen tat ich, da ich völlig angekleidet war,
ein sehr ernstes Gebet zu Gott. Dann dachte ich, was ich
mir wohl schon lange klar gemacht hatte, an den Inhalt des
Versprechens. Dann löste ich die seidenen Bänder von den
Papieren, die mir Walchon gegeben hatte, und begann zu
lesen. Meine Speisen brachte mir Dietrich in mein Zimmer.
So vergingen die drei Tage.
Am Morgen des vierten kleidete ich mich festlich und
ging in den Saal. Er war noch leer. Gleich darauf trat Hilti-
burg herein. Sie war wieder in Linnen gekleidet, aber in
weißes, und hatte keinen Hut auf dem Haupte. Ich ging
ihr entgegen, und wir grüßten uns stumm. Dann blieben
wir einen Augenblick stehen, dann trat ich in der Mitte des
Saales zu ihr und sagte: „Hiltiburg, hast du die Schriften
gelesen?“
„Ich habe sie gelesen“, antwortete sie.
„Ich habe sie auch gelesen“, sagte ich.
Dann sprach ich wieder: „Weißt du das Wort?“
„Ich weiß es“, antwortete sie.
„Ich weiß es auch“, sagte ich.
Dann fragte ich: „Soll ich das Wort sprechen?“
„Sprich es“, antwortete sie.
Sie stand da, da sie dieses sagte, vor mir und hatte ihre
beiden Arme an den Körper niederhängen. Ich legte meine
Hände auf ihre Schultern und sagte leise: „Hiltiburg, mit
Gott.“
„Rupert, mit Gott“, antwortete sie noch leiser.
Darauf neigte ich mein Angesicht gegen das ihrige, sie
neigte das ihrige gegen mich, und wir drückten die Lippen
aneinander.
Da es geschehen war, rief ich: „Hiltiburg, ich kenne den
Kuß.“
Sie wendete sich plötzlich ab, ging gegen das Fenster
und blieb dort mit dem Rücken gegen mich stehen, als
wollte sie in die grauen Steine hinaussehen.
Ich ging hinter ihrem Rücken gegen sie, dann ging ich
gegen die Tür, dann ging ich wieder gegen sie.
Dann sagte ich: „Hiltiburg, ist das nur ein Kuß des
Friedens gewesen?“ Ich hörte, daß meine Stimme zitterte,
als ich die Worte sprach.
Sie wendete sich um, auf den rosenroten Wangen war
die Glut des
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