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Der Kuß von Sentze

Der Kuß von Sentze

Titel: Der Kuß von Sentze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adalbert Stifter
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Hiltiburg. Ich zeigte ihr die
    Bücher der Moose und unterrichtete sie ein wenig. Ich be-
    lehrte sie auch über andere Pflanzen, die ihrem Vater an-
    genehm sein konnten. Ich zeigte ihr auch meine Bücher, in
    denen ich las, und lieh ihr einige auf ihr Verlangen.
    So lebte ich dahin.
    Ich las oft in einem meiner Bücher oder saß auf einem
    Steinblocke und betrachtete das Dämmern der fernen Wäl-
    der oder sah Hiltiburg nach, wenn sie aus der Umzäunung
    hinaus ging, und wenn sie zurück kam, heftete sie die Au-
    gen auf mich. Meinem Vetter suchte ich Aufmerksamkei-
    ten und Freude zu bereiten, wie ich nur immer konnte.
    Als der tiefe Herbst eingetreten war, sagte eines Tages
    mein Vetter zu mir: „Rupert, du weißt, welchen Wunsch
    dein Vater in Hinsicht der zwei jüngsten und einzigen
    Zweige unseres Geschlechtes hatte, in Hinsicht deiner und
    in Hinsicht Hiltiburgs. Ich hatte den nämlichen Wunsch.
    Weil aber dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen konnte,
    so ist jetzt ein anderer an seine Stelle getreten. Aus dem
    Verhältnisse zwischen Hiltiburg und dir glauben wir die
    Veranlassung zu erkennen, daß ihr euch den Friedenskuß
    der Palsentze gebet, welcher das Versprechen enthält, daß
    eines dem andern kein Übel zufügen werde. Dein Vater
    hat mir geschrieben, daß du zu dem Kusse eingewilligt
    hast. Ich habe mit Hiltiburg gesprochen, sie hat auch ein-
    gewilligt. Ist es dir genehm, so zeige mir den Tag an, mit
    welchem du die Vorbereitungen dazu beginnen willst. Du
    weißt, daß diese Vorbereitungen darin bestehen, daß man
    drei Tage mit einem Gebete, mit Betrachtungen über den
    Schwur und mit Lesung der Schwurschriften hinbringe.
    Hiltiburg wird an dem nämlichen Tage die Vorbereitungen
    antreten. Ich habe von den vorhandenen Schwurschriften
    zwei Abschriften in dem Hause. Eine werde ich dir, eine
    Hiltiburg geben. Und am Morgen nach dem dritten Tage
    leistet ihr in dem Saale, ohne einen einzigen Zeugen als
    Gott, wie es vorgeschrieben ist, das Versprechen.“
    Ich antwortete auf diese Rede: „Lieber Vetter, wenn
    nichts dagegen ist, so werde ich morgen die Vorbereitun-
    gen beginnen, frage Hiltiburg über die Angelegenheit noch
    einmal.“
    „Ich werde sie fragen“, antwortete er.
    Gegen den Abend sagte er zu mir: „Hiltiburg ist nicht
    dawider, und so beginnt.“
    Er gab mir ein Päckchen Papiere, das mit seidenen Bän-
    dern umwunden war.
    Dann kam das Abendessen, es war stille, und wir trenn-
    ten uns bald.
    Am andern Morgen tat ich, da ich völlig angekleidet war,
    ein sehr ernstes Gebet zu Gott. Dann dachte ich, was ich
    mir wohl schon lange klar gemacht hatte, an den Inhalt des
    Versprechens. Dann löste ich die seidenen Bänder von den
    Papieren, die mir Walchon gegeben hatte, und begann zu
    lesen. Meine Speisen brachte mir Dietrich in mein Zimmer.
    So vergingen die drei Tage.
    Am Morgen des vierten kleidete ich mich festlich und
    ging in den Saal. Er war noch leer. Gleich darauf trat Hilti-
    burg herein. Sie war wieder in Linnen gekleidet, aber in
    weißes, und hatte keinen Hut auf dem Haupte. Ich ging
    ihr entgegen, und wir grüßten uns stumm. Dann blieben
    wir einen Augenblick stehen, dann trat ich in der Mitte des
    Saales zu ihr und sagte: „Hiltiburg, hast du die Schriften
    gelesen?“
    „Ich habe sie gelesen“, antwortete sie.
    „Ich habe sie auch gelesen“, sagte ich.
    Dann sprach ich wieder: „Weißt du das Wort?“
    „Ich weiß es“, antwortete sie.
    „Ich weiß es auch“, sagte ich.
    Dann fragte ich: „Soll ich das Wort sprechen?“
    „Sprich es“, antwortete sie.
    Sie stand da, da sie dieses sagte, vor mir und hatte ihre
    beiden Arme an den Körper niederhängen. Ich legte meine
    Hände auf ihre Schultern und sagte leise: „Hiltiburg, mit
    Gott.“
    „Rupert, mit Gott“, antwortete sie noch leiser.
    Darauf neigte ich mein Angesicht gegen das ihrige, sie
    neigte das ihrige gegen mich, und wir drückten die Lippen
    aneinander.
    Da es geschehen war, rief ich: „Hiltiburg, ich kenne den
    Kuß.“
    Sie wendete sich plötzlich ab, ging gegen das Fenster
    und blieb dort mit dem Rücken gegen mich stehen, als
    wollte sie in die grauen Steine hinaussehen.
    Ich ging hinter ihrem Rücken gegen sie, dann ging ich
    gegen die Tür, dann ging ich wieder gegen sie.
    Dann sagte ich: „Hiltiburg, ist das nur ein Kuß des
    Friedens gewesen?“ Ich hörte, daß meine Stimme zitterte,
    als ich die Worte sprach.
    Sie wendete sich um, auf den rosenroten Wangen war
    die Glut des

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