Der Kuss
seine Jeans krallte, dass die Knöchel weiß wurden.
Lukas war aufgestanden, sein ganzer Körper vibrierte während des schäumenden Monologs, die Bauchmuskeln spannten sich an, seine Rippen traten hervor wenn er tief Luft holte, sein Gemächt, mittlerweile beinahe völlig erschlafft, baumelte hin und her. Es waren Kleinigkeiten, die Michael auf einmal an ihm auffielen. Die Adern am Rist, eine rote, aufgewetzte Stelle am Knöchel, eine Narbe unter dem Knie, Wachstumsstreifen an den Hüften. Er beobachtete das Spiel zwischen Muskeln und Sehnen, entdeckte Muttermale und Hautunreinheiten, Asymmetrien und Eigenheiten. Aber all das – es war verrückt – machte Lukas nur noch attraktiver für ihn, noch schöner, noch liebenswerter.
„Ach ja“, setzte Lukas nach als hätte er nicht schon genug angerichtet, „Und wegen vorhin … das war astreine sexuelle Belästigung. Du hast die Situation schamlos ausgenutzt.“
Michaels Ohren begannen zu glühen, und obwohl er alle Kraft zusammennahm stürzte eine Träne über seine Wimpern. Als wäre das ein Startschuss, begannen seine Lippen zu beben – jetzt brannte die Stelle, in die Lukas gebissen hatte. Sein Kinn kräuselte sich, die Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, aus denen salzige Perlen ploppten, und innerhalb von Sekunden waren seine Wangen nass und tropften die Tränen vom Kinn auf den Pulli. Er heulte, wie er es zuletzt als Kind getan hatte.
„Mann, das gibt’s doch jetzt nicht“, fluchte Lukas schwer genervt und schlug mit der Faust so heftig gegen die Waschmaschine, dass Michael vor Schreck hochfuhr und Lukas betroffen anglotzte. Dieser schüttelte die Faust, streckte und schloss abwechselnd die Finger und ächzte dabei. Es war offensichtlich ein sehr schmerzhafter Schlag gewesen.
Als Lukas bemerkte, dass Michael ihn anstarrte, knurrte er: „Das hätte eigentlich
dich
treffen sollen.“
Das war ein weiterer Schlag in die Magengrube und Michael merkte, wie er würgen musste. Am liebsten wäre er aufgestanden und hoch gelaufen, aber er hatte keine Kraft in den Beinen, spürte seinen Körper nicht mehr.
„Hör auf zu flennen, verdammt!“, brüllte Lukas noch einmal und schlug erneut, diesmal mit der anderen Faust, gegen die Maschine. Dabei brachte er vollen Körpereinsatz. Als wäre das nicht genug, drosch er auch noch mit seinen Knien gegen das Gerät.
Wenigstens war es wirklich ein altes, robustes Monster – Michael war sich nicht sicher, ob die Maschine, die in seinem Bad stand, eine solche Behandlung weggesteckt hätte.
Bei jedem donnernden Schlag zuckte Michael zusammen, zog seine Schultern höher. Als er sich übers Gesicht wischte, Tränen und Rotz in seinen Pulli schmierte, sah er auch Blut, das offensichtlich von seiner Lippe stammte.
Leichte Panik befiel ihn. Er hatte noch nicht oft geblutet und es sah, so vermischt mit anderen Körperflüssigkeiten, nach recht viel aus. Mit den Fingern fuhr er immer wieder über die brennenden Lippen, betrachtete das helle Rot.
Da vernahm er ein Schniefen, das nicht von ihm stammte. Mit einem Ruck hob Michael den Kopf und blickte zu Lukas. Dieser stand, die attraktive Kehrseite ihm zugewandt, vor der Maschine. Sein Brustkorb bebte verdächtig und es sah aus, als wische er sich etwas aus dem Gesicht – Tränen vielleicht?
Mit einem Schlag war Michael völlig ruhig.
Er wagte kaum zu atmen, starrte auf Lukas' Hinterkopf, spitzte die Ohren, achtete auf die Schultern seine Freundes – suchte nach Anzeichen, die seine Vermutung bestätigten, dass Lukas weinte. Aber er traute sich nicht, aufzustehen oder etwas zu sagen. Wie versteinert saß er da und spürte, wie seine eigenen Tränen an der Wange kitzelnd trockneten.
„Ich bring dir die Wäsche dann hoch“, sagte Lukas schließlich leise und ohne sich umzudrehen.
Michael wollte am liebsten widersprechen, seinen Freund stattdessen umarmen, ihn trösten, halten, aber er erhob sich folgsam, wie ferngesteuert, und verließ den Raum.
Als er den Lichtschalter betätigte hielt er kurz inne, lauschte ohne sich umzudrehen und hörte ein Schluchzen.
Betäubt, wie von einem Güterzug überfahren, schlurfte er davon, ließ seinen nackten, verzweifelten Freund hinter sich. Das Schluchzen wurde mit jedem Schritt leiser und schließlich von seinem eigenen übertönt.
Als die Feuertür schwer hinter ihm ins Schloss fiel war ihm, als bräche ein Körperteil von ihm ab.
Vollpfosten
„Warum steht der Wäschekorb vor der Wohnung?“, raunzte die Mutter,
Weitere Kostenlose Bücher