Der Landarzt (German Edition)
nicht!‹ Nehme sein Gewehr, das er auf der Erde gelassen hatte, schlage ihm das Kreuz ein, gehe wieder hinein und schlafe. Das ist die Geschichte!«
»Aber das war ein Fall berechtigter Verteidigung, die man gegen einen Menschen zugunsten vieler unternahm; Sie haben sich also nichts vorzuwerfen!« sagte Benassis.
»Die anderen,« fuhr Genestas fort, »haben geglaubt, es sei eine Grille von mir gewesen; doch, Grille oder nicht, viele dieser Leute leben heute gemächlich in schönen Häusern, ohne daß ihr Herz von Dankbarkeit beschwert wird!«
»Würden Sie diese schöne Tat denn nur getan haben, um jenes übermäßige Interesse, das man Dankbarkeit nennt, dafür zu erlangen?« fragte Benassis lachend. »Das hieße Wucher treiben.«
»Ach, ich weiß wohl,« antwortete Genestas, »daß das Verdienst einer guten Handlung beim geringsten Vorteil, den man daraus zieht, flötengeht; sie erzählen, heißt, sich eine Rente von Eigenliebe zu verschaffen, die mehr wert ist als Dankbarkeit. Wenn der anständige Mensch indes immer still wäre, würde der Verpflichtete kaum mehr von der Wohltat reden. In Ihrem System hat das Volk Beispiele nötig; wo würde es die bei einem solchen allgemeinen Schweigen finden? Noch etwas anderes: Wenn Ihr armer Pontonier, der die französische Armee gerettet und sich nie in der Lage gefunden hat, mit Nutzen davon zu schwatzen, sich den Gebrauch seiner Arme nicht erhalten hätte, würde ihm sein Gewissen Brot geben? . . . Antworten Sie darauf, Philosoph?«
»Vielleicht gibt es nichts Absolutes in der Moral,« antwortete Benassis; »doch dieser Gedanke ist gefährlich; er läßt den Egoismus die Gewissensfälle zugunsten des persönlichen Interesses deuten. Hören Sie, Rittmeister: ist der Mann, der den Prinzipien der Moral strikt gehorcht, nicht viel größer als der, welcher von ihnen abweicht – selbst notgedrungen? Würde unser Pontonier, der ganz und gar gliederlahm ist und Hungers stirbt, nicht in gleichem Maße erhaben sein, wie es Homer ist? Zweifelsohne ist das Menschenleben eine letzte Probe für die Tugend wie für das Genie, welche, die eine wie das andere, von einer besseren Welt gefordert werden. Tugend und Genie scheinen mir die beiden schönsten Formen jener vollkommenen und beständigen Aufopferung zu sein, welche die Menschen zu lehren Jesus Christus gekommen ist. Das Genie bleibt arm, indem es die Welt erleuchtet; die Tugend wahrt Schweigen, indem sie sich dem Allgemeinwohl opfert.«
»Gut, meinetwegen,« entgegnete Genestas, »doch ist die Erde von Menschen und nicht von Engeln bewohnt; wir sind nicht vollkommen.«
»Sie haben recht,« antwortete Benassis. »Ich für meine Person habe die Fähigkeit, Fehler zu begehen, tüchtig mißbraucht... Müssen wir aber nicht nach Vollendung streben? Ist nicht Tugend für die Seele ein schönes Ideal, das man unaufhörlich wie ein himmlisches Vorbild betrachten muß?«
»Amen,« sagte der Offizier. »Man gibt Ihnen zu, der tugendhafte Mensch ist etwas Schönes; räumen Sie aber auch ein, daß die Tugend eine Gottheit ist, die sich in allen Ehren ein klein bißchen Konversation gestatten darf.«
»Ah, mein Herr,« sagte der Arzt mit einer Art bitterer Melancholie lächelnd, »Sie besitzen die Nachsicht derer, die in Frieden mit sich leben, während ich streng wie ein Mensch bin, der die Flecke, die aus seinem Leben zu entfernen sind, deutlich sieht ...«
Die beiden Reiter waren bei einer am Rande des Wildbachs gelegenen Hütte angelangt. Der Arzt ging hinein. Genestas blieb an der Türschwelle und betrachtete nacheinander das Schauspiel, das die frische Landschaft bot, und das Innere der Hütte, in der sich ein Mann im Bette befand. Nachdem er seinen Kranken untersucht hatte, rief Benassis plötzlich:
»Ich habe nicht nötig, hierherzukommen, meine gute Frau, wenn Ihr nicht tut, was ich sage. Ihr habt Eurem Manne Brot gegeben. Wollt Ihr ihn denn töten? Himmel Schimmel! Wenn Ihr ihn jetzt etwas anderes als sein Queckenwasser zu sich nehmen laßt, setze ich keinen Fuß mehr über Eure Schwelle, und Ihr könnt einen Arzt suchen, wo Ihr wollt.«
»Aber, mein lieber Monsieur Benassis, der arme Alte schrie vor Hunger, und wenn ein Mensch seit vierzehn Tagen nichts in den Leib gekriegt hat ...«
»Ei was! Wollt Ihr auf mich hören? Wenn Ihr Euren Mann einen einzigen Mund voll Brot essen laßt, ehe ich ihm das Essen erlaube, werdet Ihr ihn töten. Hört Ihr?«
»Man wird ihm alles entziehen, mein lieber Monsieur... Geht's
Weitere Kostenlose Bücher