Der lange Schatten
den am Boden liegenden Frédéric Louvier und drückte ab. Der Schuss peitschte durch die lähmende Stille.
Unwillkürlich schloss Guy Thinot die Augen und riss sie sogleich wieder auf. Aus Marguerite Brancards Mund drang ein Schrei, als wäre sie selbst getroffen worden. Die Frau, die mit ihrem eingeschalteten Handy erwischt worden war, stöhnte erneut auf. Ihr Gesicht war wachsbleich. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig.
In dem Moment hörte der Blumenhändler die Sirenen von Polizeiautos, die sich rasch näherten. Der Maskierte, der soeben die Pistole in seine Jackentasche gesteckt hatte und seinen Rucksack schulterte, hörte es ebenfalls. Dann quietschten Bremsen, Wagentüren wurden zugeschlagen.
Der Bankräuber zerrte die Pistole wieder hervor, entsicherte sie und hielt sie schussbereit hoch. Er rannte zu einem der Fenster, die auf die Seitenstraße Rue Beccaria führten. Guy Thinot nutzte die Gelegenheit und hob leicht den Kopf. Er beobachtete, wie der Maskierte vorsichtig eine der Jalousielamellen beiseiteschob und nach draußen spähte. Gleich darauf sprang er zur Seite, drückte sich an die Wand und schien fieberhaft zu überlegen.
Guys Blick fiel erneut auf die Frau, die schräg hinter ihm lag. Sie hatte aufgehört zu stöhnen und lauschte ebenfalls auf die Geräusche von draußen. Stumm formte sie mit ihren Lippen ein Wort: Polizei . Zögerlich nickte Guy. Er wusste nicht, ob es gut oder schlecht war, dass die Polizei jetzt auftauchte. Eher schlecht, denn der Maskierte hätte vermutlich mit seiner Beute in den nächsten Minuten die Bank durch eines der Fenster verlassen – so wie die Frau es vorhin vorgeschlagen hatte –, und alles wäre vorüber gewesen. Jetzt war es zu spät. Er konnte hier nicht mehr raus. So betrachtet, saßen er und die Geiseln im selben Boot. Alles würde davon abhängen, welche Maßnahmen die Polizei ergriff. Erst einmal würden sie versuchen, Kontakt mit dem Maskierten aufzunehmen und verhandeln. Das konnte sich über Stunden hinziehen, wobei die Gefahr bestand, dass dieser Kerl noch mehr durchdrehte und weitere Geiseln erschoss, um sich einen freien Abzug zu erzwingen.
Guy Thinot wagte nicht daran zu denken, wer von ihnen der Nächste sein mochte.
Noch immer verspürte Céline den stechenden Schmerz im Bereich der linken Nierengegend. Der Bankräuber hatte sie mehrere Male mit seinen schweren Stiefeln getreten, und vor Schmerz wäre Céline beinahe ohnmächtig geworden. Dennoch war sie froh, dass er nicht ihren Bauch getroffen hatte. Ihren schwangeren Leib mit dem fragilen, zart wachsenden Leben ihres Kindes … Auch wenn es vielleicht nie das Licht der Welt erblicken würde, falls das Leben seiner Mutter hier und jetzt ausgelöscht wurde. Bei diesem Gedanken schluchzte Céline laut auf, fasste sich jedoch sofort wieder. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Cool bleiben, keine Schwäche zeigen. Céline biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte.
Als der Maskierte das Handy aus ihrer Jackentasche zog, hatte ihr der Atem gestockt. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass es eingeschaltet war. Ihr Schicksal war besiegelt. Er würde sie eiskalt abknallen, wie er es mit der Kassiererin getan hatte. Seit ihrer Kindheit hatte Céline nicht mehr gebetet. Doch in diesem Augenblick flehte sie Gott um Hilfe an. Im gleichen Moment drückte der Mann die Verbindung weg. Außer sich vor Wut schrie er Céline an. Du willst wohl die Nächste sein, was? Céline vernahm ihre eigenen Worte wie von weither. Bitte nicht … Sie spürte die Mündung der Waffe in ihrem Nacken. In Erwartung des tödlichen Schusses schloss sie die Augen. Keine Zeit mehr, einen Gedanken zu fassen. So endete ihr Leben. In Sekundenschnelle alles ausgelöscht.
Seltsamerweise blieb das scheinbar Unvermeidliche aus. Sie wurde nicht erschossen. Der Bankräuber verpasste ihr noch einen letzten Tritt gegen den Oberschenkel und entfernte sich. Er pfefferte ihr Handy zu den Geräten der anderen Geiseln auf einem der Kundentischchen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie der Mann zum Bankschalter ging und die Geldscheine zusammenraffte.
Kurz darauf wurde der zweite Bankangestellte erschossen. Kaltblütig, einfach so. Weil er die Zahlenkombination des Tresors nicht kannte. Danach hatte der Maskierte seinen Rucksack geschultert und die Pistole weggesteckt. Inständig hoffte Céline, dass er sich durch eines der Fenster davonmachen würde, das in die Seitenstraße führte. Doch dann hörte
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