Der lange Schatten
Céline das Heulen der Polizeisirenen. Hatte LaBréa eins und eins zusammen gezählt, als sie seine Nummer wählte? Oder war das Polizeiaufgebot, das sich offensichtlich vor der Bank formierte, das Resultat des Notrufs, den die Kassiererin vor ihrer Ermordung noch hatte auslösen können?
Der Maskierte verließ seinen Beobachtungsposten am Fenster. Er stutzte kurz, ihm schien etwas einzufallen. Auf einmal schnappte er sich Célines Handy vom Tisch, drückte einige Tasten, starrte auf das Display, und betätigte dann die Wahlwiederholungstaste. Er presste den Hörer an sein Ohr. Kurz darauf drückte er erneut eine Taste und steckte das Handy in seine Jackentasche. Mit einem Satz war er bei Céline. Breitbeinig stellte er sich über sie und riss sie an den gefesselten Händen hoch. Ihr Rückgrat krümmte sich, und Céline wurde beinahe schwarz vor Augen, so stark durchzuckte sie der Schmerz. Der Mann ließ sie abrupt los, und Céline schlug mit Stirn und Nase auf dem Steinfußboden auf.
Lieber Gott, hilf mir, dachte sie. War die Nase gebrochen? Es floss kein Blut, doch der Schmerz raubte ihr den Atem. Tränen schossen ihr in die Augen.
Jetzt beugte der Mann sich über sie.
»LaBréa?«, sagte er laut und vernehmlich, und Céline entdeckte ein seltsames Funkeln in seinen Augen. »Du hast einen Typen angerufen, der LaBréa heißt?«
Céline zwang sich, ihm in die Augen zu sehen, die sie durch den Schleier ihrer Tränen nur verschwommen wahrnahm. Zwei schwarze, flüssige Krater. Sie erwiderte nichts, hielt aber dem Blick stand.
»Interessant«, fuhr der Mann fort. »Ich kannte nämlich mal einen, der hieß LaBréa. Und das war ein Bulle. Was für’n Zufall! Den Namen gibt’s ja nicht alle Tage.« Er schwieg einen Moment und schien seinen Gedanken nachzuhängen. Die ältere Frau vor dem Kassenschalter fing wieder an zu schluchzen. Es klang wie das Wimmern eines verwundeten Tieres und durchbrach die lähmende Stille.
»Du hast also die Bullen alarmiert und mir damit die ganze Tour vermasselt!« Die Stimme des Mannes ertönte dicht an Célines Ohr. Sie hielt den Atem an. Erneut spürte sie die tödliche Gefahr, in der sie schwebte. Hilflos, voller Verzweiflung schüttelte sie den Kopf. Der Maskierte deutete dies offensichtlich als Antwort.
»Nein, hast du nicht? Lüg mich nicht an, du Miststück! Dieser Typ ist doch ’n Bulle! LaBréa, Brigade Criminelle!« Er schlug Céline mit der flachen Hand ins Gesicht und richtete erneut seine Waffe auf sie. »Hast wohl gedacht, du kannst mich reinlegen?!«
In dem Moment schrillte auf dem Schreibtisch eines der Bankangestellten das Telefon. Der Maskierte zuckte leicht zusammen und erhob sich schnell. Während er zum Schreibtisch ging, dachte Céline fieberhaft nach.
Wer war dieser Mann?
Unter welchen Umständen waren er und LaBréa sich schon einmal begegnet?
7. KAPITEL
LaBréa starrte auf das Display seines Handys. Soeben war von Célines Gerät ein Anruf bei ihm eingegangen. »Ja?«, hatte LaBréa sich gemeldet, doch niemand hatte geantwortet. Es gab nur eine Erklärung, wer der Anrufer gewesen sein konnte. Sekundenlang schloss LaBréa die Augen. Ein tiefes Stöhnen entwich seinem Mund. Die Erinnerung hing in der Luft wie ein entsetzlicher Geruch. Dezember letzten Jahres. Ein wahnsinniger Killer trieb sein Unwesen rund um die Bastille. Tötete junge Frauen auf unendlich grausame Weise. Griff bei einer nächtlichen Lockvogelaktion Leutnant Claudine Millot an, verletzte sie schwer. In seiner Planung immer einen Schritt voraus, hielt er die Polizei zum Narren und führte LaBréa und seine Leute regelrecht vor. Bis es zum Showdown kam und der Mörder als krönenden Abschluss Jenny in seine Gewalt brachte. Seine perfiden Anrufe von Jennys Handy und vom Festnetz in LaBréas Wohnung. Ein Albtraum, der schließlich mit der Erstürmung von Monsieur Hugos Wohnung und der Erschießung des Täters dramatisch endete.
Wiederholte sich hier eine ähnliche Geschichte? Welcher Schicksalsfügung hatte LaBréa es zu verdanken, dass nach der Ermordung seiner Frau und nach der Geiselnahme seiner Tochter sich nun seine Freundin Céline in der Gewalt eines Bankräubers befand, der bereits um sich geschossen hatte?
Wer war dieser Mann?
Der Taxifahrer Thierry Delarque bremste so scharf, dass LaBréa ein Stück nach vorn geschleudert wurde. Sie waren in der Nähe der Bank angekommen. LaBréa gab dem Mann sein Handy zurück und bedankte sich. Er zog einen Zwanzigeuroschein aus der Tasche und
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