Der lange Schatten
den Atem an, und die Frau flüsterte: »Bitte nicht …« Es fiel kein Schuss, obwohl Guy damit gerechnet hatte, dass jetzt die zweite Geisel liquidiert werden würde.
Irgendwie war es ihr gelungen, jemanden anzurufen, der möglicherweise das Geschehen in der Bank mitverfolgen konnte. Es lag im Auge des Betrachters, diese Handlungweise als mutig oder leichtsinnig zu bewerten. Guy war sich nicht sicher, wie er darüber urteilen sollte. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen – zu sehr hatten sich die Ereignisse überstürzt. Die Leiche der Kassierin lag teilweise in seinem Blickfeld. Zum Glück sah er nur ihre Beine, die sich merkwürdig verschlungen hatten, wie in einer grotesken gymnastischen Übung. Doch das Blut aus ihrer tödlichen Wunde hatte sich einen Weg bis zu den Oberschenkeln gebahnt. Hellrotes Blut auf der fleischfarbenen Strumpfhose unter dem blaugrau karierten Rock.
Der Maskierte senkte die Waffe und ging nach vorn zum Kassenschalter. Guy konnte nicht sehen, was er dort machte. Den Geräuschen nach zu urteilen (der Rucksack wurde hingeknallt, Schubladen und Fächer durchwühlt), raffte der Mann offenbar das Geld zusammen, das sich dort befand. Es schien weniger zu sein, als er erwartet hatte, denn er stieß einige Male mit den Stahlkappen seiner Stiefel gegen den Kassencounter und fluchte lauthals. »Verdammte Scheiße! Ich glaub’s nicht!« Dann war er mit wenigen Schritten bei dem zweiten Bankangestellten, der um zwölf den Eingang verschließen wollte. Er lag ebenfalls gefesselt auf dem Boden und hieß Frédéric Louvier, das wusste Guy Thinot. Der Bankräuber riss ihn brutal hoch und knallte ihn gegen die verschlossene Sicherheitsschleuse aus doppeltem Panzerglas.
»Wo ist die ganze Kohle?!«, brüllte er ihn an. »Glaubst du, ich mache diesen Zirkus hier für ein paar lumpige Kröten?«
Guy vernahm ein dumpfes Geräusch und einen kurzen Aufschrei. Hatte der Maskierte den Bankangestellten geschlagen? Ihm den Lauf seiner Waffe über den Kopf gezogen? Guy wagte es nicht, sich zu bewegen. Er hörte sein Herz schlagen, als würde es sich zum letzten Mal aufbäumen, bevor es endgültig verstummte. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Wann hatte dieser Albtraum endlich ein Ende?
Er sah, wie Frédéric Louvier von dem Maskierten zum Kassenschalter geschleift wurde. Aus einer Wunde an seiner Schläfe floss Blut. Hinter dem Schalter zog ihn der Mann gewaltsam hoch, stieß ihn an die Wand und drückte ihm seine Pistole mitten auf die Stirn.
»Sag mir, wo die Kohle ist. Sonst puste ich dir das Gehirn weg!«
»Im … im Tresor«, flüsterte Frédéric Louvier. Seine Augen waren vor Angst geweitet.
»Wo? Wo ist dieser verdammte Tresor?«
Mit einer schwachen Kopfbewegung deutete der Bankangestellte auf die Stelle an der Wand, wo sich im System der eingelassenen Wandschränke an der Rückseite des Kassenschalters auf halber Höhe eine größere Schranktür befand. Der Maskierte ließ den Bankangestellten los und zog am Knauf dieser Schranktür. Dahinter verbarg sich die schwarz glänzende verschlossene Metalltür des Banktresors.
Frédéric Louvier hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Das Blut rann über seine linke Wange und den Hals in den Kragen seines hellblauen Oberhemdes. Der Bankräuber packte ihn jetzt am Knoten seiner rosa Krawatte und knurrte drohend: »Die Zahlenkombination! Los, wird’s bald?«
Voller Panik blickte der Bankangestellte ihn an.
»Die weiß ich nicht!«
»Ich zähl bis drei!«
Frédéric Louviers Augen irrten hektisch hin und her. Erneut hielt der Maskierte ihm die Waffe an die Stirn.
»Eins …«
»Ich kenne die Kombination nicht!« Die Stimme des Bankangestellten überschlug sich vor Panik.
»Zwei …«
»Nur die Kassiererin und ein Kollege hinten aus dem Büro kennen sie!«
Die Kassiererin!, dachte Guy Thinot voller Entsetzen. Sie konnte die Kombination nicht mehr verraten, denn der Gangster hatte sie erschossen.
Der Kopf des Maskierten fuhr herum, und sein Blick heftete sich auf die Tür links hinter dem Kassenschalter. Hatte er sie vorher nicht bemerkt? Er schlug Frédéric Louvier mit der Faust ins Gesicht, stieß ihn zu Boden. Jetzt war der Bankangestellte außer Sichtweite für die Geiseln. Mit wenigen Schritten hastete der Maskierte zur Tür. Die Waffe im Anschlag drückte er mit einem Ruck die Klinke herunter.
Die Tür war verschlossen.
Der Maskierte trat einige Male voller Wut dagegen. Dann richtete er seine Waffe auf
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