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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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Interesse verfolgte Christian Chatel alle spektakulären Mordfälle in der Stadt, versprach er sich doch manche Anregung davon für seine Kriminalromane. Über Commissaire LaBréa hatte es seinerzeit einige Artikel in den Zeitungen und im Internet gegeben. Vielleicht war er dem Maskierten von daher bekannt? Aber in welcher Beziehung stand diese Frau zu dem Kommissar, dessen Nummer auf ihrem Handy gespeichert war? Kannte sie ihn privat? War sie am Ende gar selbst von der Polizei?
    Erneut fiel Christians Blick auf ihre zusammengekrümmte Gestalt. Eine Strähne ihres schwarzen, langen Haars war ihr ins Gesicht gerutscht und klebte an ihrer Wange. Plötzlich fiel ihm eine Geschichte aus seiner Kindheit ein. Ausgelöst durch die dunklen Haare dieser Frau schwirrte die Erinnerung herein wie ein Vogel, der sich verirrt hatte. Damals war Christian gerade zehn Jahre alt. Er verbrachte die Herbstferien bei seiner Tante Paulette und seiner Cousine Charlotte, die fünf Jahre älter war als er. Paulette hatte vor kurzem ihren Mann durch einen Unfall verloren, und Charlotte war ihr einziges Kind. Ein verwöhnter Backfisch mit pummeliger Figur, dickem Busen, langen, blonden Engelslocken und einem überspannten Lachen. Christian, ein verträumter und eigenbrötlerischer Junge, der viel in seiner Fantasiewelt lebte und oftmals laut vor sich hinredete, fühlte sich im Haus der Tante einsam und unwohl. Seine Cousine behandelte ihn von oben herab und machte sich über ihn lustig. Gleichaltrige Spielkameraden gab es nicht, und so fing Christian an, sich mehr und mehr zu langweilen. Er sehnte sich nach seinem Elternhaus. Cousine Charlotte besaß eine große Puppensammlung. Dunkelhaarige und blonde, große und kleine, von Hand gefertigte und sogar Puppen aus Porzellan standen und lagen in allen Ecken ihres Zimmers. Eines Tages, als die Tante und Charlotte das Haus verlassen hatten, nahm Christian aus dem Arbeitszimmer seines verstorbenen Onkels eine Schere und ging in Charlottes Zimmer. Er suchte sich sämtliche Puppen mit langen Haaren und Zöpfen heraus und reihe sie auf Charlottes Bett auf. Dann begann er ihnen die Haare abzuschneiden. Jeder Puppe verpasste er einen kurzen Bubihaarschnitt und setzte sie dann ans Kopfende von Charlottes Bett. Eine der Puppen, eine Indianerpuppe, hatte besonders schöne blauschwarze und zu Zöpfen geflochtene Haare. Als er sie abschnitt, sah sie nicht mehr aus wie eine Squaw, sondern wie ein richtiger Indianerkrieger. Also viel besser, wie der kleine Christian fand. Er war beinahe fertig und so vertieft in sein Tun, dass er Charlotte erst bemerkte, als sie im Zimmer stand. Ein markerschütternder Schrei entwich ihrer Kehle. Sie rannte davon und schrie weiterhin wie am Spieß. Christian ließ die Schere fallen und wollte rasch die abgeschnittenen Haarbüschel zusammenklauben, da erschien seine Tante in der Tür, gefolgt von Charlotte. Ihre Schreie waren in ein Wimmern übergegangen, und jetzt weinte sie hemmungslos. Ehe Christian sich’s versah, traf ihn die Hand seiner Tante. Sie verpasste ihm eine so kräftige Ohrfeige, dass er gegen die Wand taumelte. Dann baute sie sich vor ihm auf und packte ihn hart an den Schultern. Leise, doch mit eisiger Stimme sagte sie: »Du böser, böser Junge! Was hast du getan? Weißt du nicht, dass man fremdes Eigentum nicht anrühren darf? Geschweige denn, dass man es zerstört!« Er hatte nichts erwidert, sich auch nicht bei seiner Cousine entschuldigt. Fünf Minuten später rief Tante Paulette seine Eltern an, die ihn sofort abholen sollten. Es war das letzte Mal, dass er seine Tante und seine Cousine gesehen hatte. Christians Vater reagierte weitaus gelassener auf den Streich seines Sohnes als die Mutter, die den Jungen mit drei Tagen Stubenarrest bestrafte. Der Vorfall mit den Puppen führte zum zeitweiligen Zerwürfnis seiner Eltern mit Tante Paulette (sie war die Schwester von Christians Vater), die ihrem Neffen eine Zukunft prophezeite, die unweigerlich vor den Schranken eines Gerichts enden würde. Zur Hochzeit von Charlotte vor fünfzehn Jahren war Christian als Einziger der näheren Verwandtschaft nicht eingeladen worden. Charlotte hatte die Haarschneideaktion an ihren Puppen nie vergessen.
    Die Stimme des Maskierten riss Christian aus seiner Erinnerung. Soeben stürmte er auf die alte Frau zu und gab ihr einen Tritt in die Seite.
    »Halt endlich deine verdammte Schnauze!«, brüllte er. »Sonst knall ich dich ab!« Wie auf Knopfdruck war die Frau verstummt, und

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