Der lange Schatten
Christian hatte den Eindruck, dass sie ohnmächtig geworden war.
Der Maskierte ging zurück zum Fenster und spähte hinaus. Dann blickte er auf die Uhr, ließ seine gehetzten Blicke über die am Boden liegenden Menschen gleiten, und wartete.
Die Schmerzen in ihrem Knie, an Händen und Schultern waren so übermächtig, dass sie den Fußtritt des Maskierten kaum spürte. Umso mehr setzte ihr die Stimme des Mannes zu. Angeschrien zu werden war etwas, was Marguerite Brancard nicht kannte. Der Schrecken darüber erstickte sogleich ihr Schluchzen. Marguerites Mutter, deren Stimmlage ein Repertoire von schneidend kalt bis sarkastisch verächtlich umfasste, hatte gleichwohl nie ihre Stimme erhoben oder ihre Tochter gar angebrüllt. Sie kannte andere Methoden, Marguerite schon als kleines Mädchen einzuschüchtern, zu tadeln, sie wegen Nichtigkeiten zu strafen. Laute Worte gehörten ebenso wenig dazu wie Schläge. Nie hatte die Mutter die Hand gegen sie erhoben. Dennoch hatte Marguerite sie gefürchtet, wie man einen Peiniger fürchtet. Und das hatte sich bis heute nur wenig geändert.
Marguerite schloss die Augen. Der Schmerz durchzog sie in starken Wellen. Um ihn ertragen zu können, flüchtete sie in eine Art Dämmerzustand. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, tauchten Erinnerungsfetzen vor ihrem inneren Auge auf. Flüchtige Bilder, die sich überlagerten und wie in einem Rücklauf Szenen ihres Lebens abspulten. Geschehnisse in einem düsteren Film, in dem ein immer gleiches graues Licht herrscht. Die Allgegenwart der Mutter. Ihre übermächtige Gestalt, wenn sie in Marguerites Sachen herumschnüffelte. Ihr ironisches Lachen beim Lesen von Marguerites Tagebuch, dessen Versteck sie mit sicherem Instinkt aufgespürt hatte. Der verächtliche Kommentar zu einem kleinen Gedicht, das Marguerite als Dreizehnjährige geschrieben und vergebens vor der Mutter zu verbergen versucht hatte.
Maman …
Ihr Leben lang hatte Marguerite Angst vor ihr gehabt. Als sie jetzt darüber nachdachte, schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie suchten sich einen Weg durch die geschlossenen Lider und benetzten Marguerites Wangen. Eine unendliche Traurigkeit, stärker als jeder körperliche Schmerz, ergriff von ihr Besitz. Sollte ihr Leben heute in dieser Bank enden, wäre es nichts anderes gewesen als Einsamkeit und Angst. Diese Erkenntnis erschien Marguerite so entsetzlich, dass der Schmerz bis tief in ihr Herz drang. Nichts von allem konnte ungeschehen gemacht oder im Nachhinein verändert werden. Gefangen im Netz der Jahre, die verronnen und verloren waren. Was blieb noch? Eine Zukunft, die ebenso düster wie die Vergangenheit schien. Wozu sollte sie sie herbeisehnen? Vielleicht war ihr Schicksal hier in dieser Bank besiegelt. Das passende Ende eines verpfuschten Lebens, dem niemand nachtrauern würde.
Und Maman? Musste Marguerite nicht alles tun, um die Sache hier heil zu überstehen, damit sie die Mutter nicht im Stich ließ? Als sie voller düsterer Befürchtungen darüber nachsann, geschah plötzlich etwas mit ihr. Ein Ruck ging durch ihre Seele, und ein Lichtstrahl durchstach die Finsternis ihres Herzens. Seltsam, wie fern der Gedanke an ihre Pflichten als Tochter auf einmal schien! Als hätte eine fremde Hand ihn auf einen Eisenbahnwaggon gepackt und den Waggon auf eine abschüssige Strecke gestoßen, damit er rasch aus dem Blickfeld rückte.
Marguerite öffnete die Augen. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff Besitz von ihr. Obwohl sie wusste, dass sie sich in der Gewalt dieses wahnsinnigen Bankräubers befand, der vielleicht demnächst seine Waffe auf sie richten würde, keimte Hoffnung in ihr auf. Eine Hoffnung, die einzig und allein auf sie selbst gerichtet war und sie stärker durchströmte als die Sorge um Maman.
Zum ersten Mal in ihrem Leben dachte Marguerite Brancard an sich. Ausschließlich an sich und an den kleinen Zipfel Zukunft, der allem zum Trotz noch vor ihr lag.
Die Haarsträhne quer über ihrer linken Wange juckte. Schweißnass klebte sie auf der Haut, und Céline hatte keine Möglichkeit, sie zu entfernen. Hilflos lag sie da. Sie spürte die Schwellung ihrer Finger, in denen sich prall das Blut staute. Unerbittlich schnitten die Plastikschnüre in ihre Handgelenke. Dennoch durchströmte Céline nur ein einziger Gedanke: Hoffentlich passiert meinem Kind nichts! Als der Maskierte zum ersten Mal zum Fenster eilte und auf die Straße spähte, hatte sie sich rasch etwas mehr auf die Seite gedreht, um ihren Bauch zu
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