Der lange Schatten
ihren Angeln und schlug im lauen Frühlingswind hin und her. Céline hatte Angst und spürte, wie ein Schauer ihr den Rücken herunterlief. Florent, zwei Jahre älter als Céline, spielte den furchtlosen Draufgänger und ging voran. Sie steuerten auf den alten Kellereingang zu, an dem die Tür fehlte. Sie hatten Taschenlampen mitgebracht.
»Da unten in den alten Weinkellern, da liegt ein versteckter Schatz«, hatte Florent seiner Schwester zugeflüstert, als er ihr von seinem Abenteuerplan erzählte. »Ein Goldschatz! Aus der Zeit der Mönche, die damals den ersten Wein in unserer Gegend angebaut haben. Der alte Bromin, dieser Säufer, hat gar nichts davon gewusst.«
»Und woher weißt du davon?«, hatte Céline ihren Bruder skeptisch gefragt. Florent hatte sie bedeutungsvoll angeblickt.
»Ich weiß es eben.«
Ein verschlungenes Labyrinth von Gängen führte immer tiefer in die Erde. Im Schein der Taschenlampen erspähten die Kinder riesige Spinnweben. Einige Male kreuzten Ratten ihren Weg und verschwanden in den Löchern der gemauerten Wände. Plötzlich geschah es. Hinter ihnen erklang ein lautes Krachen, eine Staubwolke breitete sich aus und verdunkelte die Sicht. Ein Teil der Kellerdecke war eingestürzt. Zum Glück waren sie nicht von den herunterfallenden Steinmassen getroffen worden. Sie rannten vorwärts, immer tiefer hinein in die Gewölbe. Fieberhaft suchten sie nach einer Abzweigung, die hinaus ins Freie führte. Umsonst. Stundenlang irrten sie durch die Gänge. Der einzige Weg hinaus war durch einen Haufen Geröll versperrt, den sie unmöglich beiseiteschaffen konnten. Angst und Panik bemächtigten sich ihrer und wurden immer stärker. Die Taschenlampen gaben ihren Geist auf, und die Dunkelheit ringsum wurde undurchdringlich. Als die Nacht hereinbrach (auf Florents Armbanduhr mit den Leuchtziffern konnten sie die Uhrzeit ablesen), kauerten sie sich völlig erschöpft, staubig und mit ausgedörrter Kehle auf den feuchten Erdboden. Es war sehr kalt, und Céline zitterte am ganzen Körper. Sie hatte viel geweint, und auch Florent war verzweifelt. Sie waren hier gefangen und würden nie wieder herauskommen. Niemand wusste, dass sie zu dem alten Weingut gegangen waren. Deshalb würde niemand sie hier suchen. Die Stunden krochen dahin, Céline und ihr Bruder gaben jede Hoffnung auf. Einige Male hatten sie verzweifelt um Hilfe gerufen und mit einem Stein an die Wände geklopft. Das Echo ihrer Stimmen hallte durch die Kellergänge und verstärkte die Todesangst, die die beiden umklammert hielt. Irgendwann dämmerte Céline vor Erschöpfung weg. Schon am nächsten Morgen wurden Hunger und Durst unerträglich. In den Momenten, in denen sie immer wieder das Bewusstsein erlangte, spürte sie ihre riesige geschwollene Zunge, die am Gaumen klebte.
Durst. In einem Abenteuerbuch von Sven Hedin hatte sie einmal gelesen, dass Verdursten ein qualvoller Tod sei, und dass ein Mensch länger ohne Nahrung als ohne Wasser überleben könnte.
Durch einen bloßen Zufall wurden sie zwei Tage später gerettet. Auf seinem Zeichenblock hatte Florent mehrere Skizzen des alten Weingutes angefertigt und das Versteck des Goldschatzes im Kellergemäuer rot markiert. Die Polizei hatte endlich die richtigen Schlüsse gezogen, ein Suchtrupp machte sich auf den Weg und rettete die völlig erschöpften Kinder.
Damals war es ein Feuerwehrmann, der Céline eine Wasserflasche an den Mund hielt. Nie würde sie den Moment vergessen, als der erste Schluck durch ihre Kehle rann.
9. KAPITEL
Mit einem Ruck wurde die Tür des Mitarbeiterbüros aufgestoßen. Direktor Roland Thibon blieb auf der Schwelle stehen. Sein Gesicht war zornrot angelaufen. Er wandte sich sogleich an Franck, der sich auf seinem Schreibtischsessel zurücklehnte und bereits ahnte, was gleich kommen würde.
»Wo ist LaBréa?« Die Stimme des Direktors klang schneidend. »In seinem Büro auf jeden Fall nicht! Und sein Handy war pausenlos besetzt. Gerade erfahre ich von dritter Seite, dass in der Rue Massillon ein Mann in seiner Wohnung erschossen wurde. Hat Ihr Chef es jetzt nicht mehr nötig, mich unverzüglich zu informieren? Also, wo ist er?«
Franck tauschte einen schnellen Blick mit Claudine und dem Paradiesvogel.
»Am Boulevard Diderot, Monsieur«, erwiderte er dann rasch. »Da gab es einen Banküberfall und …«
Thibon unterbrach ihn brüsk
»Einen Banküberfall? Und da fährt ein Commissaire der Brigade Criminelle gleich hin, obwohl er in einem aktuellen
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