Der lange Schatten
entlasten. Dort spürte sie nichts. Auch vorher, bevor dies alles geschehen war, hatte sie nichts gespürt. Im dritten Monat der Schwangerschaft bewegt sich ein Kind noch nicht. Doch die Sorge, dass Angst und Stress sich auf das ungeborene Leben übertragen könnten, hatte sie keine Sekunde losgelassen. Hinzu kam die Panik vor der Unberechenbarkeit des Maskierten.
Jetzt war eine neue Situation eingetreten. Der Kontakt zwischen Polizei und Geiselnehmer war hergestellt. Der Maskierte hatte mit LaBréa telefoniert und ihn auf der Straße erkannt. Demnach befand sich dieser bereits beim Polizeiaufgebot vor der Bank. Einerseits empfand Céline dies als beruhigend, andererseits ergaben sich daraus neue Befürchtungen. Bisher hatte der Maskierte noch nicht gefragt, in welcher Beziehung sie zu LaBréa stand. Auf keinen Fall durfte er erfahren, dass sie seine Freundin war! Fieberhaft überlegte Céline, was sie ihm sagen würde, wenn er es doch noch wissen wollte. Dass sie Journalistin sei? Eine Nachbarin? Céline hoffte inständig, dass der Maskierte zu beschäftigt war, um daran zu denken.
Einen Wagen und freien Abzug, das wollte er. Freien Abzug gab es angesichts eines massiven Polizeiaufgebots mit SEK und Scharfschützen, die sicher bereits Stellung bezogen hatten, nur dann, wenn der Täter zu seinem Schutz eine Geisel nahm. Fünf Menschen standen zu seiner Verfügung, er brauchte sich nur einen auszusuchen. Wen würde er wählen? Was, wenn er sie zwang, ihn zu begleiten?
Nachdem der Mann das Gespräch mit LaBréa weggedrückt und die Frau vor dem Kassenschalter angebrüllt hatte, herrschte in der Bank Totenstille. Immer wieder ging der Bankräuber vorsichtig zum Fenster und beobachtete die Straße. Mehrfach sah er auf die Uhr. Céline ahnte, dass die von ihm gesetzte Frist von zwanzig Minuten verstreichen und dass die Polizei sich bemühen würde, weiter mit ihm zu verhandeln. Doch ob eine solche Strategie im Interesse der Geiseln lag, stand dahin. Jede Minute, die sie hier länger verbringen mussten, brachte ihr Leben in größere Gefahr.
Wie lang waren zwanzig Minuten? Unendlich lang, so erschien es Céline. Sie beobachtete den Täter aus den Augenwinkeln. Er seinerseits betrachtete die Geiseln und schien fieberhaft zu überlegen. Unruhig fuhr er sich mit der Zunge über die wulstigen Lippen. Seine Waffe hielt er in der rechten Hand. Den Rucksack mit der Beute hatte er sich umgeschnallt, so dass seine linke Hand frei war. Wieder blickte er auf die Uhr und bewegte sich dann zu der Tür, die nach hinten führte. Dort blieb er stehen und lauschte. Vermutlich hatte er die Befürchtung, dass die Polizei von dieser Seite her überraschend in den Schalterraum eindringen könnte. Auch Céline hegte diese Befürchtung. Sie war davon überzeugt, dass der Mann in einem solchen Fall sofort auf die Geiseln schießen würde. Zwei Tote gab es bereits. Obwohl Céline es vermeiden wollte, weitere Blicke auf den Leichnam der ermordeten Kassiererin zu werfen, musterte sie unwillkürlich das Blut auf dem Boden. Es war dunkler geworden und trocknete an.
Die veränderte seitliche Position minderte das Ziehen in den Handgelenken und die Schmerzen im Rücken nicht. Im Gegenteil. Der Arm und die ganze Schulterseite kribbelten und wurden taub. Céline hatte nur einen Wunsch: dass ihr endlich die Fesseln durchschnitten wurden und sie einen Schluck Wasser trinken konnte.
Einen Schluck Wasser …
Als Kind hatte sie sich einmal in einer Situation befunden, in der sie drei Tage ohne Nahrung und Wasser durchhalten musste. Damals in Nuits Saint-Georges, ihrem Heimatort in Burgund. Sie war zwölf, und an einem Sonntag erforschte sie mit ihrem Bruder Florent das verlassene alte Weingut der Familie Bromin am Rand des Ortes. Es war ein riesiges Anwesen, auf dem seit Generationen ein Fluch lag. Menschen waren dort ermordet worden oder auf seltsame Weise verschwunden. So erzählte man es sich jedenfalls. Es war ein herrlicher Frühlingstag Anfang April. An den Rändern der Weinberge blühten die Himmelschlüssel in üppigen gelben Büscheln. Vom Bach her, dessen klares Schmelzwasser die Kinder aus der hohlen Hand tranken, rief der erste Kuckuck. Still und verlassen, von einer unheimlichen Aura umgeben, lag das alte Anwesen zwischen Wiesen und Weinfeldern. Die Fensterscheiben in den Gebäuden waren eingeschlagen, die Türen mit Brettern vernagelt. Halb kaputte leere Weinfässer lagen herum. In einem der Nebengebäude quietschte eine alte Holztür in
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