Der lange Schatten
Mordfall ermitteln sollte? Ich fasse es nicht!« Thibon schlug sich an die Stirn. Seine Augen funkelten vor Wut.
Claudine schaltete sich ein.
»Na ja, er ist nicht ohne Grund dorthin gefahren.«
»Halten Sie den Mund!«, herrschte Thibon sie an. »Das Ganze hat ein Nachspiel – darauf kann sich Ihr Chef gefasst machen!«
Claudine ließ sich nicht einschüchtern. Mit fester Stimme fuhr sie fort: »Seine Freundin ist unter den Geiseln, Monsieur. Ist doch verständlich, dass er sofort vor Ort sein wollte.«
Thibon stutzte.
»Seine Freundin? Ich wusste gar nicht, dass er eine hat … Wie auch immer: Er hätte das mit mir absprechen müssen!«
»Was den Mordfall in der Rue Massillon angeht, Monsieur«, bemerkte Jean-Marc eilig, »da sind wir bereits mitten in den Ermittlungen.«
»Tatsächlich?« Thibon lachte ironisch. »Tja, wenn das so ist, dann frage ich mich, wozu wir überhaupt die teure Planstelle eines Commissaire brauchen, wenn Sie das auch allein übernehmen können!« Er maß den Paradiesvogel mit einem abschätzenden Blick. »Wie sehen Sie heute überhaupt wieder aus, Leutnant Lagarde? Geht’s nicht noch etwas bunter?«
Jean-Marc schluckte und wandte den Blick ab. Entschlossen verschränkte Franck seine Arme über der Brust.
»Möchten Sie wissen, Monsieur le Directeur, welche Ergebnisse es bisher in dem Mordfall gibt?«
Thibon winkte ab.
»Verschonen Sie mich mit irgendwelchen Details. Ich will umfassend informiert werden. Und zwar von LaBréa persönlich, und nicht von einem seiner Mitarbeiter!« Er versuchte nicht einmal, seine Verachtung zu verbergen. »Buddha hat einmal gesagt, dass die Eigenschaft des Mitteilens der Weg der rechten Erkenntnis ist. Wenn Sie überhaupt verstehen, was ich meine.« Er blickte auf seine Armbanduhr und verließ grußlos das Büro.
Claudine lachte los. »Buddha! Seit wann hat der Schöngeist den denn im Repertoire?«
»Wahrscheinlich macht er demnächst eine Ayurveda-Kur in Indien«, meinte Franck ironisch.
»Er versucht sicher gleich wieder den Chef zu erreichen. Vielleicht bin ich aber schneller.« Jean-Marc griff nach dem Telefonhörer und wählte LaBréas Handynummer. »Besetzt! Ich sag’s ja. Der hat keine Sekunde gezögert, dieser Idiot.«
Franck grinste. »Obwohl – was dein heutiges Outfit angeht, hat er ja eigentlich Recht. Du könntest dir einen Nebenjob in einer Transi-Bar suchen.« Er lachte über seinen Witz.
»Lass deine blöden Anspielungen, Franck«, sagte Claudine ungewohnt scharf. Alle in der Abteilung wussten, dass Jean-Marc schwul war. Franck konnte das einfach nicht akzeptieren und machte oft bissige Bemerkungen. »Erzähl uns lieber, was Fourès vom Drogendezernat gesagt hat.«
»Fehlanzeige, Claudine. Dieser Luc Chambon ist sauber. Keine Akte – der Name ist in der Szene nie aufgetaucht.«
»Okay. Dann gehe ich mal rüber zu Gilles, damit wir uns das Handy von Chambon vornehmen. Gilles hat inzwischen den Akku aufgeladen. Na, mal sehen, ob es was bringt.«
Das Ultimatum von zwanzig Minuten, das der Bankräuber gesetzt hatte, war bereits abgelaufen. Capitaine Leconte dachte nicht daran, die Forderung des Geiselnehmers zu erfüllen. Jedenfalls nicht sofort. Zunächst sollte Zeit gewonnen und der Mann hingehalten werden. LaBréas Meinung zu dieser Maßnahme war äußerst gespalten. Als Polizist teilte er die Haltung des Chefs des Sonderkommandos. Zeit zu gewinnen, das war bei Banküberfällen mit Geiselnahme oberste Priorität. Als Privatmann hingegen hegte LaBréa größte Befürchtungen. Der Täter schien unberechenbar, und Céline befand sich in seiner Gewalt. Die Angst um sie lähmte zeitweilig seine Gedanken, und er musste sich immer wieder zwingen, kühl und sachlich zu bleiben.
Véronique Andrieu spürte, was in LaBréa vorging. Sie selbst hatte noch keine Gelegenheit gehabt, zum Einsatz zu kommen. Capitaine Leconte hatte wiederholt versucht, in der Bank anzurufen, um zu verhandeln. Ohne Erfolg. Der Geiselnehmer ging nicht ans Telefon. Daher versuchte Leconte mehrfach, einen Kontakt per Megafon herzustellen. Er teilte dem Unbekannten mit, dass die Bereitstellung des Wagens sich wegen diverser Verkehrsstaus in der Stadt noch etwas verzögerte; dass er aber immer noch die Möglichkeit habe, die Bank mit erhobenen Händen zu verlassen. LaBréa hoffte inständig, dass der Geiselnehmer sich mit dieser Hinhaltetaktik, die er sicherlich durchschaute, zunächst zufriedengab. Noch wusste niemand, ob es in der Bank tatsächlich
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