Der lange Schatten
dachte sie, das Kind … Am Vormittag hatte ihr die Frauenärztin gesagt, dass die Gefahr einer Fehlgeburt im dritten Monat am größten war, wenn die Mutter Stress oder seelische Erschütterungen zu ertragen hätte. Einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen, doch die kalte Stimme des Geiselnehmers schreckte sie auf.
»Stell den Motor ab und steig aus.«
Alles in Céline sträubte sich dagegen, das Auto zu verlassen. Solange sie am Steuer des Wagens saß, fühlte sie sich einigermaßen sicher. Wenn sie ihn verließ, war sie dem Mann total ausgeliefert. Sie durfte ihr Schicksal nicht kampflos in seine Hände legen. Zu verlieren hatte sie ohnehin nichts.
»Sagen Sie mir, was Sie vorhaben.« Sie zwang sich, ihrer Stimme Festigkeit zu geben und presste ihren Körper an das Sitzpolster.
»Das wirst du schon sehen.« Er griff mit der Hand nach dem Zündschlüssel, stellte den Motor ab und nahm den Schlüssel an sich. Dann sprang er aus dem Wagen und rannte zur Fahrertür. Er riss sie auf und drückte ihr seine Waffe an die Schläfe. »Los, aussteigen, hab ich gesagt!«
Wie schnell ist so ein Tod, wenn du eine Kugel in den Kopf bekommst?, fragte Céline sich verzweifelt. Doch sie wollte nicht sterben. Sie wollte leben, ihr Kind auf die Welt bringen und es aufwachsen sehen. Langsam stieg sie aus. Der Geiselnehmer packte sie grob an der Schulter und stieß sie vorwärts. Bis zum Bauwagen, dessen dunkelgrüner Holzanstrich an vielen Stellen abblätterte, waren es nur wenige Schritte. Zwei kleine Fenster an der Längsseite des Wagens hatte man außen mit dicken Brettern vernagelt. Der Geiselnehmer fischte einen Schlüssel aus einer der Taschen seiner Cargohose und schloss die Tür auf. Sie war aus Metall und sah äußerst solide aus. Ein muffiger, feuchter Geruch schlug Céline entgegen. Panik stieg in ihr hoch, und einem spontanen Instinkt folgend wollte sie kehrtmachen. Doch der Mann hatte sie am Arm gepackt und zwang sie über die beiden kleinen Stufen ins Wageninnere. Er folgte ihr sofort und zog die Tür hinter sich zu. Es war stockdunkel, und als Céline einen Schritt nach vorn stolperte, stieß sie gegen einen Tisch. Gleich darauf flackerte der Strahl einer Taschenlampe auf. Der Geiselnehmer sperrte die Tür von innen zu. Dann ging er zu dem kleinen Tisch, gegen den Céline gestoßen war, und zündete mit Hilfe eines Feuerzeugs eine Campinggaslampe an. Der Schein erhellte die Umgebung. Der Tisch war zwischen den beiden Fenstern mit der Holzwand verbunden. Zwei Stühle standen sich gegenüber. Neben dem Tisch, in einem windschiefen Regal, lagerten Konservendosen und ein Plastikkanister. Auf einem kleinen Campingtisch an der rechten, fensterlosen Längsseite befand sich ein Gaskocher. Gleich daneben erhob sich ein schmaler Metallspind mit einem Vorhängeschloss. Hinten, an der Wandseite gegenüber der Eingangstür, lag eine Matratze auf dem Boden. Die Angst drückte auf Célines Herz, sie konnte sich nicht dagegen wehren. Tränen schossen ihr in die Augen, und ihr Körper begann zu zittern. Was immer dieser Mann mit ihr anstellen würde – niemand konnte hören, wenn sie um Hilfe schrie. Sie drehte sich um und blickte ihrem Peiniger in die schwarzen, ausdruckslosen Augen. Der Mann schien ihre Angst zu riechen. Er musterte sie von oben bis unten, als taxierte er seine Beute. Dann wandte er sich abrupt ab und schnappte sich zwei Konservendosen aus dem Regal. Er knallte sie auf den Tisch und ließ sich auf einen der Stühle fallen.
»Los, mach was zu essen! Ich hab ’nen Riesenkohldampf. Büchsenöffner ist in der Tischschublade. Einen Topf gibt es auch, und mit ’nem Gaskocher wirst du ja wohl klarkommen.«
Er zog seinen Rucksack vom Rücken. Die ganze Zeit über hatte er ihn nicht abgelegt. Die Pistole steckte er in die Seitentasche seines schwarzen Anoraks. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück und streckte die Beine von sich. Für einen kurzen Augenblick erschien er Céline müde, beinahe ausgelaugt. Oder täuschte sie sich? War dieser Eindruck reines Wunschdenken, entstanden aus Verzweiflung und Angst?
Céline griff nach den beiden Konservendosen. Es war ein Fertiggericht, Cassoulet. Schwere Kost wie diesen Eintopf aus weißen Bohnen, Speck, Würstchen und Enten- oder Schweinefleisch mochte Céline normalerweise nicht. Doch seit dem Frühstück hatte sie keine Mahlzeit zu sich genommen und spürte plötzlich, wie hungrig sie war.
Aus der Schublade holte sie den Büchsenöffner, ein verrostetes,
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