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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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vorsintflutliches Ding. Messer und Gabel entdeckte sie dort nicht, stattdessen einige verbogene Blechlöffel. Sie legte zwei davon auf den Tisch. Einen verbeulten Topf fand sie auf dem hölzernen Fußboden. Erstaunlicherweise wirkte er einigermaßen sauber. Doch das spielte im Moment keine Rolle. Neben dem Kocher lag eine Packung Streichhölzer. Céline zündete den Gaskocher an, stellte den Topf auf den Herd und gab den Inhalt der beiden Konservenbüchsen hinein. Ohne sich umzudrehen, sagte sie zu dem Geiselnehmer: »Wohnen Sie hier, Monsieur?«
    »Das geht dich einen Dreck an! Wie weit ist das Essen?« Céline schluckte. Es gelang ihr einfach nicht, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln.
    »Müsste gleich warm sein«, erwiderte sie resigniert.
    »Mach’s nicht zu heiß; ich hab keine Lust, mir das Maul zu verbrennen.«
    Céline nahm einen der Blechlöffel vom Tisch, und ihr Blick streifte kurz die Gestalt des Geiselnehmers.
    »Sag mal, du bist doch die Tussi von diesem Bullen?«, fragte er plötzlich.
    Unmerklich zuckte Céline zusammen. Diese Frage hatte sie die ganze Zeit befürchtet. Sie war darauf vorbereitet, dennoch löste sie eine neue Welle von Angst in ihr aus.
    »Wie meinen Sie das, Monsieur?« Sie wollte Zeit gewinnen.
    »Na, wie wohl!« Der Geiselnahme lachte anzüglich auf. »Ob du mit ihm vögelst, meine ich!«
    Céline drehte sich kurz um. »Nein, tue ich nicht! Commissaire LaBréa ist mein Nachbar. Er … ist mein Nachbar.«
    »Tatsächlich?«, sagte der Geiselnehmer gedehnt. »Und deswegen hast du seine Nummer auf deinem Handy gespeichert.«
    Mit heftiger Bewegung rührte Céline in dem Topf. Das Cassoulet dampfte bereits. Sie stellte die Flamme kleiner. »Ich hab seine Nummer gespeichert, weil es bei uns im Viertel in letzter Zeit ziemlich viele Einbrüche gegeben hat. Monsieur LaBréa hat allen Nachbarn angeboten, ihn sofort zu kontaktieren, wenn irgendwas vorfällt.«
    Jetzt lachte er lauthals los. Es klang übertrieben und fast ein wenig hysterisch. »O Mann, ich glaub’s nicht! Ein Bulle mit Herz und Hilfsbereitschaft! Und alles ohne Gegenleistung!«
    »Das Essen ist fertig, Monsieur. Wo finde ich Teller?«
    »Die gibt’s nicht. Wir essen aus dem Topf. Erst ich, dann du. Falls was übrig bleibt!« Er grinste hämisch.
    Ein nie gekanntes Gefühl der Wut stieg in Céline auf. Sie hasste diesen Menschen. Sie, die Gewalt in jeder Form immer verabscheut hatte, verspürte den unbändigen Wunsch, diesen Mann körperlich zu verletzen und in die Knie zu zwingen. Sich zu rächen für all das, was er ihr und den Menschen in der Bank angetan hatte. LaBréa hatte einmal zu ihr gesagt, dass unter bestimmten Umständen jeder Mensch zum Mörder werden kann. Für sich hatte sie das kategorisch ausgeschlossen. Jetzt musste sie feststellen, welche Abgründe sich in ihr auftaten. Ja, wenn sie könnte, würde sie diesen Mann töten, hier und jetzt! Um sich aus seiner Gewalt zu befreien, um ihn dafür zu bestrafen, dass er auf so brutale Weise in ihr Leben eingegriffen hatte und sich anmaßte, über ihr Schicksal zu bestimmen. Der Gedanke erschreckte sie, gab ihr aber auch gleichzeitig die Kraft, das alles auszuhalten, ohne die Nerven zu verlieren.
    Sie machte die Gasflamme aus und stellte den Topf auf den Tisch. Der Geiselnehmer zog ihn auf seine Seite, griff nach einem Löffel und begann zu essen.
    »Du kannst dich ruhig hinsetzen«, sagte er mit vollem Mund. Erneut ließ er seinen intensiven Blick auf ihr ruhen. In seinen Augen entdeckte Céline jetzt ein merkwürdiges Flackern. Die Pupillen schienen geweitet, der Ausdruck der Augen wirkte starr. Céline ließ sich langsam auf den zweiten Stuhl gleiten und saß nun dem Mann gegenüber. Ohne den Blick abzuwenden, schaufelte dieser sich den Eintopf in seinen Mund. Nach einer Weile sprach er wieder.
    »Du bist also nicht die Tussi von dem Bullen, sagst du. Ob ich dir das glauben soll?« Er beugte sich tiefer über den Topf.
    Céline wollte ihn ablenken. »Ich hab Durst. Kann ich etwas Wasser haben?«
    »Stell den Kanister auf den Tisch, und hol zwei Gläser. Die müssten irgendwo im Regal sein.«
    Rasch erhob sich Céline. Im Regal fand sie zwei schmutzige Gläser. Sie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und wischte sie aus. Dann schraubte sie den Plastikkanister auf, schenkte ein und ließ den Kanister auf dem Tisch stehen. Sie schob dem Geiselnehmer ein Glas zu, doch der rührte es nicht an. Gierig trank Céline den ersten Schluck. Das

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