Der lange Schatten
Wasser schmeckte kühl und frisch.
»Das tut gut!«, sagte sie leise und trank einen weiteren Schluck. »Bringen Sie sich immer Wasser mit hierher?«
»Du stellst zu viele Fragen.« Der Mann schob den Topf über den Tisch. »Hier, der Rest ist für dich. Du hast Glück, dass noch was übrig ist!« Es klang herablassend und gehässig. Wut und Hass flackerten erneut in ihr auf, doch sie ließ sich nichts anmerken. Erwartete er jetzt ein Dankeschön von ihr? Céline beschloss, ihm den Gefallen zu tun.
»Danke«, sagte sie leise. Sie starrte einen Moment auf den dicken Eintopf, und ein Gefühl des Ekels überkam sie. Mit dem Mörder aus einem Topf essen … Doch der Hunger war größer, und Celine überwand sich. Das Cassoulet schmeckte fad, würde jedoch den Magen füllen. Bald war das Ekelgefühl vergessen.
Der Mann lehnte sich auf dem Stuhl zurück und bohrte sich mit dem Zeigefinger in den Zähnen herum. Er stand auf, noch bevor Céline mit dem Essen fertig war.
»Ich verschwinde jetzt für ein paar Stunden. Du brauchst gar nicht zu versuchen, um Hilfe zu rufen oder an die Tür zu hämmern. Hier hört dich sowieso keiner.« Er nahm seinen Rucksack und drehte die Gaslampe aus. Gleichzeitig stellte er seine Taschenlampe an, die er griffbereit auf den Tisch gelegt hatte. »Licht brauchst du nicht. Du kannst dich da hinten auf die Matratze legen, bis ich zurück bin.« Er nahm die Streichholzpackung an sich und ließ sie in seine Hosentasche gleiten.
Er sperrte die Tür auf und verschloss sie von außen. Céline hörte, wie seine Schritte sich rasch entfernten. Doch sie hörte nicht, dass der Wagen gestartet wurde. Anscheinend ging er zu Fuß weg.
Was hatte er vor? Würde er überhaupt wiederkommen? Oder ließ er sie allein in diesem abseits gelegenen Bauwagen zurück, wo man sie nie finden würde, weder lebendig noch tot?
Der Gedanke daran war so entsetzlich, dass Céline in ein verzweifeltes Schluchzen ausbrach. Eingeschlossen in ein dunkles Loch, aus dem es kein Entrinnen gab … Die Erinnerung an den alten Weinkeller damals in ihrer Kindheit löste eine Panikattacke aus, die ihr den Atem abschnürte. Sie ließ ihren Kopf auf die Tischplatte fallen und weinte hemmungslos.
13. KAPITEL
Seit einer halben Stunde saß LaBréa mit seinen Mitarbeitern in seinem Büro in der Talkrunde. Nachdem er kurz geschildert hatte, was sich im Anschluss an die Geiselnahme in der LCL-Bank ereignet hatte, wollte er nun die Ermittlungen im Mordfall Luc Chambon koordinieren und vorantreiben. Es fiel ihm nicht leicht, und immer wieder wanderten seine Gedanken zu Céline. Wo befand sie sich jetzt? Was geschah mit ihr?
»Gibt es inzwischen weitere Einzelheiten über das Opfer?« LaBréa nippte an seinem Kaffeebecher und versuchte, sich zu konzentrieren.
Jean-Marc warf einen Blick in seine Unterlagen.
»Nichts, was uns wirklich weiterbringt. Sein Geburtsdatum steht ja in seinem Personalausweis: 7. August 1988. Vom Einwohnermeldeamt in Marseille habe ich erfahren, dass Luc Chambon unehelich geboren wurde. Vater unbekannt. Name der Mutter: Justine Chambon. Sie wohnte damals in einer der Vorstädte von Marseille.«
»Und heute?«, fragte LaBréa. »Ist sie da weggezogen?«
»Nein. Sie lebt nicht mehr. Bei den Vorstadtkrawallen 2001 geriet sie irgendwie zwischen die Fronten von Jugendlichen und Polizei. Sie starb durch einen Steinwurf. Der Täter wurde nie identifiziert.«
LaBréa erinnerte sich noch gut an diese Vorstadtkrawalle. Damals arbeitete er bei der Police Judiciaire in der Marseiller Innenstadt. Zu jener Zeit gärte es überall in den Problemvierteln der französischen Großstädte. Dort lebten viele Migranten. Hohe Arbeitslosigkeit, besonders unter Jugendlichen, war eine der Hauptursachen für die allgegenwärtige Gewalt in diesen Wohnvierteln. Hier gab es mehr Vergewaltigungen und Tötungsdelikte als anderswo, mehr Einbrüche und einen hohen Drogenkonsum. In allen Städten wurden seinerzeit zahllose Autos angezündet und Barrikaden errichtet; Jugendliche lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Es herrschte Anarchie, und die hohen Polizeiaufgebote schienen angesichts dieses Gewaltpotenzials machtlos. Beide Seiten beklagten viele Verletzte. Presse und Bevölkerung forderten härtete Strafen für die Täter, manche Politiker sprachen sich sogar für die Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft für Gewalttäter mit Migrationshintergrund aus.
»Was passierte nach dem Tod der Frau mit ihrem Sohn?«,
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