Der lange Schatten
Franck, reden Sie nochmal mit Fourès vom Drogendezernat. Er soll seinen Informanten das Foto von Luc Chambon zeigen. Vielleicht gibt’s darüber einen Treffer.«
»Mach ich, Chef.«
»Wir wissen überhaupt nichts von dem Mann, bis auf ein paar Eckpunkte aus seiner Biografie, was äußerst mager ist. In seiner Wohngegend war er nicht bekannt, oder? Habt ihr da nochmal nachgehakt?«
»Ich hab mit dem alten Mann gesprochen, der im Vorderhaus wohnt«, erwiderte Claudine. »Er wusste nicht mal, dass im hinteren Gebäude eine Wohnung vermietet war.«
»Und die Leute in den Nachbarhäusern?«
»Fehlanzeige, Chef. Niemand kann sich an Luc Chambon erinnern.«
»Was ist mit den Geschäften rund um Notre-Dame?«
»Das sind ja meistens Souvenirläden für Touristen. Ich glaube kaum, dass man uns da weiterhelfen kann.«
»Wer weiß? Wir beide gehen nachher mal dorthin und befragen die Ladenbesitzer.«
»Noch was Wichtiges, Chef.« Jean-Marc räusperte sich. »Im Badezimmer haben wir zwei Zahnbürsten gefunden. Gilles und seine Leute untersuchen sie auf DNA-Spuren. Vielleicht können sie bei einer von ihnen fremde DNA nachweisen. Schon am Waschbecken waren ja fremde Fingerabdrücke. Vielleicht hat Luc Chambon mit jemandem zusammengewohnt.«
Ohne dass angeklopft wurde, schwang plötzlich die Tür auf. Direktor Thibon betrat LaBréas Büro. Sein Gesichtsausdruck versprach nichts Gutes. Seine Augen funkelten wutentbrannt, und seine Stimme klang gefährlich leise.
»Ich komme gerade von einem auswärtigen Termin zurück, LaBréa. Der Wachhabende unten am Eingang hat mir gesagt, dass Sie vor mehr als einer halben Stunde das Gebäude betreten haben. Und von meiner Sekretärin habe ich erfahren, dass Sie keineswegs sofort in mein Büro gekommen sind, um mir eine Erklärung für Ihr ungeheuerliches Verhalten zu liefern.«
»Sie waren doch gar nicht da, wie Sie eben selbst gesagt haben.«
Thibon schnappte nach Luft, dann brüllte er los. »Werden Sie jetzt auch noch unverschämt? Sind Sie sich eigentlich der Tragweite Ihrer Handlungsweise bewusst?«
»Das bin ich, Monsieur«, entgegnete LaBréa trotzig. »Aber der Banküberfall auf dem Boulevard Diderot hat mich ganz persönlich betroffen, und …«
Thibon unterbrach ihn. »Ist mir bereits bekannt! Und wissen Sie was? Es ändert nichts an meiner Einstellung, dass Ihr Verhalten eine grobe Verletzung Ihrer Dienstpflicht war. Sie hätten nur zum Handy greifen und mich anrufen müssen!«
»Tut mir leid, Monsieur le directeur, aber danach stand mir wirklich nicht der Sinn!«
»Das glaube ich gern, LaBréa! Ich frage mich ohnehin schon seit längerem, wonach Ihnen überhaupt der Sinn steht und ob Sie für diese Abteilung noch tragbar sind.«
In LaBréa stieg die Wut hoch. Unwillkürlich erhob er seine Stimme. »Ich muss doch sehr bitten, Monsieur! Hier geht es um das Leben meiner Freundin. Jeder andere Vorgesetzte hätte Verständnis für meine Handlungsweise!«
»So, meinen Sie? Dann stellen Sie also auch noch meine Führungsqualitäten infrage, hier, im Beisein Ihrer Mitarbeiter? Das wird ein Nachspiel haben!«
Jetzt platzte LaBréa endgültig der Kragen. Er sprang auf und stieß seinen Stuhl zurück. Er war mit seinen Nerven am Ende, und dieser Disput mit Thibon hatte ihm gerade noch gefehlt. »Meinetwegen! Sie können mich ja gleich vom Dienst suspendieren, dann muss ich mir wenigstens Ihr ständiges Genörgele, Ihre ewige Besserwisserei und Ihr inkompetentes Getue nicht mehr anhören! Von Ihren geistreichen Sprüchen mal ganz abgesehen!« Mit hochrotem Kopf marschierte LaBréa an Thibon vorbei und verließ den Raum. Die Tür krachte ins Schloss.
Einen Moment lang war Thibon sprachlos. Sein Blick wanderte hektisch zwischen LaBréas Mitarbeitern hin und her. Diese schienen nach dem Abgang ihres Chefs und dem heftigen Wortwechsel zwischen ihm und dem Direktor wie gelähmt und vermieden jeden Blickkontakt mit Thibon.
Der Direktor straffte sich, rückte seine Krawatte zurecht und steckte dann beide Hände in die Hosentaschen. »Das, was sich eben hier in diesem Raum abgespielt hat, darf nicht nach außen dringen«, sagte er in scharfem Ton. »Habe ich mich klar ausgedrückt, meine Herrschaften?«
Franck murmelte etwas, das wie Zustimmung klingen mochte, während Claudine und der Paradiesvogel nur kurz nickten.
»Kein Sterbenswörtchen zu irgendjemandem!«, fuhr Thibon fort. »Ich befehle Ihnen absolutes Schweigen! ›Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht, der
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