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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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eine halbe Stunde warten und dann den Bullen anrufen.
    Céline war eingenickt. Ihre Arme lagen ausgestreckt auf der Tischplatte, ihr Oberkörper war zusammengesackt. Ihre unbequeme Haltung weckte sie schließlich. Es war kurz nach ein Uhr morgens. Sie hatte über eine Dreiviertelstunde geschlafen, ein Zeichen dafür, wie erschöpft sie war. Ein Schrecken fuhr ihr in die Glieder. Das Baby! Wie unvorsichtig von ihr, nicht daran zu denken, dass das Ungeborene Schaden nehmen konnte, wenn sie so über die Tischplatte gebeugt längere Zeit verharrte. Céline streckte sich vorsichtig und setzte sich kerzengerade auf.
    Es war dunkel im Bauwagen. Ein stickiger Mief hing in der Luft. Eine Mischung aus Gasgeruch, Knoblauchgestank, verbrauchter Luft und Schweiß. Es war ihr eigener Körper, den sie da roch. Schmutzig und verschwitzt, wie sie sich fühlte, konnte das nicht ausbleiben.
    Der Druck auf ihre Blase war inzwischen unerträglich. Céline überlegte nicht lange, zündete die Gaslampe an, nahm die zweite Cassouletdose und erleichterte sich. Wenigstens das ist jetzt erledigt!, dachte sie und stellte die volle Dose hinter das Regal mit den Küchenutensilien. Dort würde sie der Geiselnehmer nicht so schnell entdecken.
    Am Tisch sitzend überfiel sie erneut bleierne Müdigkeit. Nur mit Mühe hielt sie sich wach. Bilder und Ereignisse zogen vorüber wie in einem Schattenspiel. Das überlebensgroße Bildnis von Íngrid Betancourt auf dem Plakat an der Fassade des Hôtel de Ville. Ihre niedergeschlagenen Augen, diese Haltung der Demut und Schwäche auf dem Foto während ihrer Gefangenschaft im Dschungel, einem Foto, das um die Welt ging. Sechseinhalb Jahre hatte ihre Gefangenschaft gedauert. Doch schließlich war sie befreit worden, und Céline hatte sich seinerzeit gefragt, wie ein Mensch eine derart lange Zeit als Geisel aushalten und überstehen konnte? Nun war Céline selbst in einer ähnlichen Situation, und ihr Schicksal schien ebenso ungewiss wie das der berühmten Politikerin, die niemals wieder in die Politik zurückgekehrt war.
    Als sie draußen plötzlich Schritte hörte, schreckte Céline hoch. Sie löschte rasch die Lampe. An der Art und Lautstärke der Schritte erkannte sie, dass es der Geiselnehmer war. Céline stöhnte. Jegliche Hoffnung, dass einmal jemand anders als ihr Peiniger dieses verlassene Gelände betrat, wurde immer wieder erstickt.
    Sie lauschte auf das Geräusch des Schlüssels. In den langen Stunden ihres Alleinseins hatte sie sich überlegt, wie sie den Mann ausschalten konnte, wenn er durch die Tür kam. Sollte sie ihm die Gaslampe auf den Kopf schlagen, hoffen, dass er zu Boden ging und sie fliehen konnte? Was gab es noch als Waffe – den halb leeren Wasserkanister? Bei näherer Überlegung hatte Céline all diese Szenarien wieder verworfen. Ihr Peiniger, ein großer, durchtrainierter Mann, war ihr körperlich überlegen. Hinzu kam, dass er äußerst vorsichtig vorging, wenn er die Tür des Bauwagens aufschloss. Als Erstes leuchtete er mit der Taschenlampe ins Wageninnere, um zu sehen, wo Céline sich befand. Erst dann trat er ein und schloss sofort die Tür ab. Damit schien jeder Versuch, ihn zu überrumpeln, von vornherein zum Scheitern verurteilt.
    Auch diesmal beachtete er all seine Vorsichtsmaßnahmen. Nachdem er abgesperrt hatte, zündete er die Lampe an. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht ließ er sich in den Stuhl fallen.
    Bewegungslos saß Céline ihm am Tisch gegenüber. Sie versuchte in seinen Augen zu lesen. Sie schienen uferlos in ihrer Abgründigkeit und gaben nichts preis. Sie wollte etwas sagen, doch der Mann kam ihr zuvor.
    »Deinem Bullen hab ich einen Denkzettel verpasst«, bemerkte er mit Genugtuung in der Stimme.
    »Was haben Sie mit ihm gemacht?« Céline bemühte sich, ihrer Stimme einen unverfänglichen Klang zu geben.
    »Machst dir wohl Sorgen um ihn, was? Aber keine Bange, er lebt noch.« Beinahe genüsslich fuhr er mit der Zunge über seine Lippen. Dann schnellte er plötzlich nach vorn, griff über den Tisch nach Celines Handgelenk und umschloss es mit festem Griff. »Ich will erst das Geld, verstehst du? Und er selbst wird es überbringen!« Mit einem Ruck ließ er ihre Hand wieder los.
    »Dann ist also alles klar mit dem Lösegeld?«
    Er musterte sie unbewegt. »Das hoffe ich doch. Sonst bist du dran, das weißt du ja.«
    Céline ballte die rechte Hand zur Faust und spürte, wie das Blut daraus entwich. Das Gefühl von Wut und gleichzeitiger Ohnmacht war so

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