Der lange Schatten
der Zeiger der Uhr beinahe auf eins, als Simon immer noch mit einem Buch in seinem Ohrensessel saß. Das Feuer im Kamin war fast völlig heruntergebrannt. Sollte er noch ein Scheit auflegen? Simon schürzte unschlüssig die Lippen. Der Salon war mollig warm, die Luft roch angenehm nach Pfeifentabak. Noch ein Holzscheit ins Feuer werfen, eine letzte Pfeife stopfen und einen Schlummertrunk zu sich nehmen? Bevor Simon ein Entscheidung darüber fällen konnte, klingelte das Telefon.
Um diese Uhrzeit?, dachte er. Wer konnte das sein? Hoffentlich nicht jemand von der Klinik! Simons Mutter lag nach einem Schlaganfall seit einer Woche im Krankenhaus. Laut Auskunft der Ärzte war sie zwar stabil, aber vielleicht hatte sie einen Rückfall erlitten? Sein Herz pochte schneller, als er den Hörer seines Festnetzapparates abnahm.
»Hallo?«
»Hier ist Maurice«, ertönte eine vertraute Stimme. »Entschuldige, dass ich so spät noch anrufe.«
Erstaunt runzelte Simon die Stirn. Nach kurzen Zögern erwiderte er rasch: »Kein Problem, ich bin noch wach.«
»Ich brauche dringend deine Hilfe!«
»Was ist denn los? Du klingst gar nicht gut!«
Sie kannten sich seit ihrem sechzehnten Lebensjahr, hatten zusammen Abitur gemacht, bevor sich ihre Wege für viele Jahre trennten. Als LaBréa im letzten Jahr von Marseille nach Paris zurückkehrte, nahmen sie die Verbindung wieder auf. Erst in der vergangenen Woche hatte Simon mit LaBréa und dessen Freundin Céline in einem kleinen Restaurant zum Abendessen gespeist. Er mochte Céline Charpentier und war ein Fan ihrer Bilder. Bei ihrer letzten Ausstellung hatte er ein Aquarell gekauft. Es hing im Salon über dem Kamin, eine abstrakte Studie in leuchtenden Farben.
Wie gebannt lauschte Simon den Worten seines alten Schulfreundes. In knappen Sätzen berichtete LaBréa ihm von dem Banküberfall und Célines Geiselnahme. Simon war geschockt.
»Du liebe Güte, das ist ja entsetzlich! Und du hast keine Ahnung, wohin der Kerl sie verschleppt hat?«
»Doch, die habe ich. Und das ist auch der Grund, warum ich dich anrufe.« LaBréa erläuterte ihm die Einzelheiten.
Simon hörte eine Weile zu und meinte dann: »Aber hier zu Hause habe ich keine Unterlagen!«
»Ich weiß«, erwiderte LaBréa. »Deswegen ist es auch am besten, wir treffen uns in deinem Büro. Und zwar jetzt gleich. Du bist der Einzige, der mir im Moment weiterhelfen kann.«
»Das hoffe ich, Maurice! Bei mir geht so viel über den Schreibtisch, dass ich nicht jeden einzelnen Vorgang im Kopf haben kann. Aber sämtliche Dossiers müssten in meinem Computer gespeichert sein.«
»Wie lange brauchst du, bis du da bist?«
»Mit dem Wagen nicht länger als zehn Minuten.« Simons Wohnung lag in der Nähe des Jardin du Luxembourg, sein Büro am Boulevard Morland im 4. Arrondissement.
»Gut, dann treffen wir uns vor dem Haupteingang.«
Nachdem Simon den Hörer aufgelegt hatte, löschte er im Salon das Licht. Wie gut, dass er kein weiteres Holzscheit aufgelegt hatte! Er verließ ungern die Wohnung, wenn das Feuer im Kamin noch loderte. Wenigstens schlief sein Sohn tief und fest. Vorsichtig öffnete er Raphaëls Zimmertür. Er hatte sich getäuscht. Der Junge lag keineswegs im Bett und schlief. Er saß vor seinem Computer und tippte gerade etwas ein.
»Bist du verrückt?«, rief Simon ungehalten. »Ich denke, ihr schreibt morgen früh eine Geschichtsarbeit?«
Raphaël grinste. »Ja eben, deswegen recherchiere ich auch noch was Wichtiges.«
Simon glaubte ihm kein Wort. »Mach sofort das Ding aus. Versprichst du es mir?« Sein Sohn nickte. »Ich muss nämlich nochmal aus dem Haus.«
»Wohin denn?«
»Erzähl ich dir morgen.«
Er schloss die Tür, eilte kopfschüttelnd in den Flur und öffnete den Garderobenschrank. Wenig später verließ er die Wohnung. Er mochte sich nicht vorstellen, was los war, wenn er in seinem Büro nicht die Unterlagen fand, die LaBréa so dringend benötigte.
22. KAPITEL
Zwei Stufen auf einmal nehmend, jagte LaBréa die Treppe hinunter in die Tiefgarage des Präsidiums, wo die Dienstwagen der Brigade Criminelle standen. Er startete einen der Renaults und bretterte über die Brücke auf den Seine-Quai. Immer noch verspürte er starke Kopfschmerzen, Jean-Marcs Tablette hatte sie nur kurzzeitig gelindert. Als sein Handy klingelte, ahnte er schon, wer der Anrufer war. Ohne Umschweife kam der Geiselnehmer zur Sache.
»Dies ist mein letzter Anruf, du Dreckskerl. Ich hoffe, du hast dich inzwischen von deinem
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