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Der Lange Weg Des Lukas B.

Der Lange Weg Des Lukas B.

Titel: Der Lange Weg Des Lukas B. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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zuflüs­terten: »Der Geist weht, wo er will.«
    »Wie schade, dass sein Wehen mit so schlechter Luft verbunden ist«, kicherte eine und presste sich ein Seidentuch gegen Mund und Nase.
    Der alte Mann nahm die Sturmlaterne und schritt dem Jungen voran. Durch die Großluke kletterten sie in das Zwischendeck hinab. Die verschiedenen Gruppen der Auswanderer hatten sich mit Tüchern und Laken notdürftig ihren kleinen Bereich abgeteilt. Lampen tupften trübe Lichtinseln in die Finsternis. Dicht beieinander lagen und hockten die Menschen. Obwohl durch die Segeltuchtrichter versucht wurde Wind unter Deck zu drücken, war die Luft stickig und schwer. Es roch scharf nach Schweiß und Urin. Aus einem Winkel drang das Stöhnen einer Frau durch den ganzen Raum.
    »Was habt ihr hier zu schaffen?«, fuhr ein Bursche den alten Mann an. »Habt ihr euch verlaufen?«
    »Ich hörte, dass einige Kinder die Krätze haben.«
    »Was geht euch unsere Krätze an?«, sagte der Bursche grob. »Schert euch fort und geht zu den feinen Pinkeln.«
    »Lass den Mann in Frieden, Schreihals«, wies eine dicke Alte den Burschen zurecht. Sie schien sich im Zwischendeck einen gewissen Respekt verschafft zu haben. Der Junge hatte das schon während der Gottesdienste bemerkt.
    »Blöde Vettel«, knurrte der Bursche, aber er gab Ruhe.
    »Was wollen Sie?«, fragte die Alte.
    »Ich habe eine Salbe gemischt. Die hilft gegen die Krätze.«
    Der alte Mann reichte ihr den Salbentopf. Sie schnüffelte daran.
    »Schwefel. Hab ich Recht?«
    »Ja. Das Rezept ist noch von meiner Mutter. Schwefel und Gänseschmalz.«
    »Haben wir bei uns in Polen auch gemacht.«
    Sie erhob sich schwerfällig, verschwand in einer dunklen Höhle, wohin der Schein der Lampe nicht reichte, und kehrte nach einer Weile mit einem etwa 14-jährigen, mageren Mädchen zurück, das ein kleines Kind auf dem Arm trug.
    »Helfen Sie diesem Wurm, wenn Sie können«, sagte die Alte.
    »Schläft deine Mutter schon?«, fragte der alte Mann das Mädchen.
    »Schläft ist gut«, lachte die Alte. Mit ihren schwarzen Zahnlücken sah sie im Dämmerlicht boshaft aus. »Sie können sie hören. Sie liegt dort hinten und stöhnt und schreit seit Stunden. Kann ihr Kind nicht zur Welt bringen. Ist gerade, als ob es sich weigert, auf diesem schwimmenden Sarg geboren zu werden.«
    Der alte Mann sagte dem Mädchen, sie solle das Kind ins Licht halten. Zwischen den Fingern hatte sich der Kleine die Haut blutig gekratzt. Der alte Mann strich vorsichtig alle geröteten und wunden Stellen mit der Salbe ein. Zwei andere Frauen brachten ihre Kinder. Die anderen weigerten sich ihre Kleinen von fremden Händen begrapschen zu lassen, wie sie sagten. Der Zimmermann gab der Alten den Topf mit der Salbe.
    »Wenn Sie an drei Abenden die Kinder damit behandeln«, sagte er, »dann trocknet die Krätze ein.«
    »Sollen wir sie nicht mehr im Meerwasser baden?«
    »Doch«, antwortete der alte Mann. »Morgens baden, abends ­salben.«
    Die Frau, die in den Wehen lag, schrie schrill und anhaltend. Das Tuch, das vor ihre Koje gehängt worden war, wurde weggeschoben. Der Junge sah die Frau. Der Schweiß rann ihr über das Gesicht, die Haare hingen strähnig und nass um ihren Kopf, die Augen hatte sie weit aufgerissen. Ihre Hände verkrampften sich um das Holz ihres Lagers. Der Schrei erstarb.
    »Endlich«, rief eine Mamsell, die ihr beistand, und hob an dünnen Beinchen ein blutverschmiertes, schleimiges Kind ins Licht. »Binde die Nabelschnur ab«, befahl sie einer anderen Frau, die hinter dem Vorhang stand und den Blicken des Jungen verborgen blieb. Ein dünner, heller Kinderschrei zitterte durch das Zwischendeck. Selbst die Gruppe lärmender Kartenspieler in der hinteren Ecke wurde still.
    »Es ist ein Mädchen«, sagte die Frau, die das winzige Kind hielt. »Bringt endlich das heiße Wasser!«
    Der Vorhang wurde hastig zugezogen. Der Junge stand wie betäubt. »Komm, Luke«, sagte der alte Mann, nahm den Jungen bei der Hand und zog ihn an Deck. »So ist das, wenn ein Mensch zur Welt kommt.«
    »Immer?«
    »Manchmal geht es schneller, manchmal ist es schwieriger. Du weißt ja, mit dir war es besonders schlimm. Wenn nicht der Arzt zu deiner Mutter gekommen wäre, ihr hättet beide sterben müssen. War ein tüchtiger Arzt. Kein Weg war ihm zu weit, obwohl er damals schon weit über 70 war. Karl sollte ihn holen, weil die Hebamme sagte, sie wisse auch nicht mehr weiter. Er hat den Kutschwagen angespannt und die Pferde beinahe zu Schanden

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