Der Lange Weg Des Lukas B.
etwas erklären, aber der Leutnant zog seine Pistole und sagte laut: ›Nichts will ich hören. Nur der, der den Brunnen vergiftet hat, der soll sich melden.‹ Wieder war es um den Brunnen herum so still, als ob kein Mensch da gewesen wäre. Nur das Gurren der Tauben war zu hören.
›Wenn sich der Täter nicht findet, werde ich Geiseln auswählen und erschießen lassen‹, drohte der Leutnant.
Stumm standen alle und starrten vor sich in den zertretenen Schnee. Da ließ der Leutnant jeden zehnten Dorfbewohner auszählen. An den Bienmanns ging das Los vorüber. Aber 27 Personen, Frauen und Männer, junge und alte traf die Zehnerzahl. Die Geiseln wurden von den Soldaten vor dem Brunnen zusammengetrieben. Die schöne Hannah war dabei und eins der Knabig-Mädchen.
›Ich warne Sie zum letzten Male‹, sagte der Leutnant in die Stille hinein. ›Wenn sich der Täter nicht meldet, muss ich diese Leute füsilieren lassen.‹
Mit weiten Schreckensaugen standen die Menschen. Schon befahl der Leutnant seinen Soldaten ihre Gewehre zu laden, da trat mein Onkel Johannes vor, riss sich die Fellmütze von seinem blonden Kraushaar, warf sich vor dem Leutnant auf die Knie und sagte leise: ›Ich war es, der das Gift in den Brunnen warf.‹
›Na, also‹, nickte der Leutnant und gab den Soldaten einen Wink, die Geiseln freizulassen.
Die schöne Hannah schrie auf, mein Großvater redete auf den Leutnant ein und bot ihm an ihm all die Pferde zu ersetzen, aber es nützte nichts. Johannes wurde mit dem Rücken zum Brunnen mitten auf die breite Dorfstraße gestellt. Die Kommandos ertönten. Die Soldaten hoben die Gewehre. Ich sah, dass der kleine Trompeter seinen Flintenlauf ziemlich hoch in die Luft hielt. Die Schüsse krachten.
Onkel Johannes reckte sich empor, sackte zusammen. Der schmutzige Schnee färbte sich von seinem hellen Blut. Die Tauben waren erschreckt aufgeflattert. Eine schoss hoch in die Luft, breitete weit ihre Flügel aus, torkelte, sank nieder, fiel schwer auf die Brust des erschossenen Onkels, getroffen von der Kugel des jungen Trompeters.
Die Soldaten nahmen die letzten Pferde aus dem Dorfe mit sich und zogen davon.
Jedermann im Dorf wusste, dass Johannes nicht der war, den der Leutnant wirklich gesucht hatte, und dass es die Liebe zu Hannah gewesen war, die ihm den frühen Tod gebracht hatte. Der Baron von Knabig schenkte meinem Großvater ein ansehnliches Stück Land und die Dörfler boten unserer Familie das Haus zu Eigen an, das wir gemietet hatten. So blieb unsere Familie in Liebenberg. Den Franzosen aber, der das Giftwasser getrunken hatte und der in unser Haus getragen worden war, den hat meine Großmutter gesund gepflegt. Als später die Preußen nach versprengten Soldaten des Franzosenkaisers suchten, da hat sie ihn versteckt und keiner aus dem Dorf hat ihn verraten, obgleich es längst nicht allen recht war, dass einer der ›Franzmänner‹ so gut davonkommen sollte. ›Ein unschuldig Getöteter ist genug‹, sagte meine Großmutter. ›Was kann er schon dafür, dass sein Kaiser Krieg macht. Es sind immer nur die kleinen Leute, die für den Krieg bezahlen und sterben müssen.‹
Eigentlich hieß der französische Soldat Pierre. Aber meine Großmutter hat ihn das ganze Jahr, in dem er bei uns geblieben ist, Jean gerufen, obwohl er schmal und schwarzhaarig war und in nichts meinem Onkel Johannes glich.
Oft bin ich an der Hand meiner Großmutter in den folgenden Jahren zum Kirchhof gegangen. Großvater hatte ein mannshohes Kreuz auf das Grab seines Sohnes gestellt. Der Grabhügel war in der warmen Jahreszeit stets mit Blumen überhäuft und selbst jetzt, nach über 50 Jahren, tragen die alten Leute noch ihre Sträuße auf das Grab meines Onkels Johannes.
Das kleine Dorf aber, Jungchen, hat für eine Zimmermannsfamilie auf die Dauer nicht genug Arbeit gehabt. Deshalb mussten wir Männer immer wieder in der ganzen Gegend umherziehen, den ganzen Sommer über. Wir suchten und fanden Arbeit und kehrten erst mit den Tauben vom Brunnen wieder in das Dorf zurück.«
»Wie die Zigeuner«, sagte der Junge.
»Wie die Zigeuner«, bestätigte der alte Mann.
Der Junge lag noch lange wach. Er hörte den Lärm aus dem Zwischendeck. Männerstimmen schimpften. Kinder wimmerten. Junge Burschen grölten wüste Lieder. Eine Auswanderergruppe betete laut. Grelles Frauenlachen klang immer wieder auf.
»Die Hitze macht sie verrückt dort unten«, sagte Mathilde, »für die Kinder ist es die Hölle.«
Der alte Mann
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