Der langsame Walzer der Schildkroeten
Bars der großen Hotels. Er mochte die Beleuchtung, die gedämpfte Atmosphäre, die leise Jazzmusik im Hintergrund, die fremden Sprachen, die dort gesprochen wurden, die Kellner, die mit ihrem Tablett und ihrem geschmeidigen Gang vorbeieilten. Er konnte sich vorstellen, er sei in Paris, in New York, in Tokio, in Singapur, in Shanghai. Er war nirgendwo und gleichzeitig überall. Das passte ihm sehr gut. Er war ein Liebeskranker auf dem Weg der Besserung. Keine besonders männliche Verfassung, dachte er bei sich.
Er setzte eine abweisende Miene auf, die Miene eines Geschäftsmanns, der in wichtige Bücher vertieft ist. In Wahrheit las er Auden, er las Shakespeare, er las Puschkin, er las Sacha Guitry. Diese ganzen Typen, die er in seinem früheren Leben nie gelesen hatte. Er wollte Emotionen verstehen, Gefühle. Die großen, weltbewegenden Dinge überließ er anderen. Anderen, die so waren, wie er früher gewesen war. Als er noch ernsthaft war, gehetzt, als er seinen strengen Seitenscheitel trug, den Hemdkragen sorgfältig geschlossen, eine seriös gestreifte Krawatte, zwei Handys. Ein vor Zahlen und Gewissheiten strotzender Mann.
Jetzt gab es für ihn keine Gewissheiten mehr. Er tastete sich vorwärts. Und das war auch besser so! Gewissheiten versperren einem die Sicht. Im Moment las er Eugen Onegin von Puschkin. Die Geschichte eines jungen Müßiggängers, der sich, von Schwermut und Lebensüberdruss erfasst, aufs Land zurückzieht. Onegin gefiel ihm unermesslich gut.
Morgens schaute er in seinem Büro an der Regent Street vorbei und kümmerte sich um einige laufende Angelegenheiten. Er telefonierte mit Paris. Mit dem Mann, der ihn ersetzt hatte. Anfangs war alles problemlos verlaufen, doch inzwischen spürte er bei ihm ein kaum mehr verhülltes Drängen. Er erträgt meine Untätigkeit nicht mehr. Er erträgt es nicht mehr, dass ich immer noch meinen Anteil am Gewinn einstreiche, ohne mich im Schweiße meines Angesichts dafür abzurackern. Anschließend rief er Magda an, seine ehemalige Sekretärin und jetzt Sekretärin des Lurchs. Das war ihr Codename für seinen Stellvertreter: der Lurch. Sie flüsterte immer, damit der Lurch sie nicht hörte, und erzählte ihm den neuesten Büroklatsch. Der Lurch war sexsüchtig.
»Neulich«, gluckste Magda, »wäre ich fast aus dem Fenster gesprungen, um seinem Gegrapsche zu entkommen!«
Der Lurch blieb abends bis elf im Büro, war abgrundtief hässlich, hinterhältig, unausstehlich und arrogant.
»Er ist ein hervorragender Geschäftsmann! Seit er am Ruder ist, hat er den Umsatz verdoppelt …«, sagte Philippe.
»Ja, aber er kann jederzeit hochgehen! Jedenfalls sollten Sie sich vorsehen, er hasst Sie! Nachdem er mit Ihnen telefoniert hat, springen ihm jedes Mal vor Wut die Knöpfe von der Weste!«
Philippe hatte das Honorar seiner beiden Anwälte erhöht, um sicher zu sein, dass ihm nichts passieren konnte. In diesem Haifischbecken musste man sich in Acht nehmen! Der Lurch war der Inbegriff eines Hais, aber er war auch brillant.
Philippe aß häufig mit potenziellen Mandanten zu Mittag. Vermögenden, umgänglichen, kultivierten Mandanten, die er nach genau diesen Kriterien auswählte. Um keine Zeit zu verschwenden. Er führte die ersten Verhandlungen und verwies sie anschließend weiter an den Lurch in Paris. Nachmittags setzte er sich in die Bar eines Luxushotels, wählte ein gutes Buch und las. Gegen siebzehn Uhr dreißig holte er Alexandre von der Schule ab, und sie gingen plaudernd nach Hause. Oft besuchten sie vorher noch ein Museum oder eine Galerie. Oder gingen ins Kino. Je nachdem, wie viele Hausaufgaben Alexandre für den nächsten Tag hatte.
Manchmal setzte sich eine junge Frau zu ihm, während er las. Eine als Touristin getarnte Professionelle, die sich an den einsamen Geschäftsmann heranmachte. Er beobachtete, wie sie näher kam. Auf ihrem Platz herumrutschte. Vorgab, in einer Zeitschrift zu lesen. Er rührte sich nicht, las weiter, und nach einer Weile gab sie auf. Hin und wieder bat ihn ein forscheres Mädchen um eine Information oder eine Adresse. Er antwortete immer mit dem gleichen Satz: »Tut mir leid, Mademoiselle, ich warte auf meine Frau!«
Bei seinem letzten Besuch in Paris hatte Bérengère, die beste Freundin seiner Frau, ihn angerufen, um sich mit ihm auf einen Drink zu verabreden. Unter dem Vorwand, wegen ihres ältesten Sohnes mit ihm über englische Schulen reden zu wollen. Nachdem sie sich anfangs noch mütterlich und besorgt gegeben
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