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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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heute einen Euro zehn! Dazu die Provision für den Kleinen, und wir essen wahrscheinlich das teuerste Brot auf der ganzen Welt!«
    An den Tagen, an denen der Junge schulfrei hatte, zog sie einen Mantel über ihr Nachthemd, ging nach unten und stellte sich in der Bäckerei in die Schlange. René war ihr Mann. Ihr Mann aus Fleisch und Lust. Sie hatte ihn mit zwanzig kennengelernt; damals war sie Backgroundsängerin bei Patricia Carli gewesen, und er baute die Bühne auf und ab. Sein Oberkörper glich einem großen V, sein Kopf war kahl wie eine Billardkugel, und er redete wenig, aber seine Augen sprachen Bände. Ebenso schnell mit lautem Schimpfen wie mit einem Lächeln bei der Hand und mit der ruhigen Gelassenheit jener Menschen begabt, die von Geburt an wissen, was sie wollen und wer sie sind, hatte er sie eines Abends bei der Taille gepackt und nicht mehr losgelassen. Dreißig Jahre Ehe und sie erschauerte immer noch, wenn er sie berührte. So ein Glück, ihr René! In der Horizontalen schenkte er ihr Lust und in der Vertikalen Respekt. Er war zärtlich, aufmerksam, mürrisch, alles, was sie an einem Mann liebte. Fast dreißig Jahre lebten sie jetzt schon in der kleinen Wohnung über dem Lager, die Marcel ihnen großzügig überlassen hatte, als er René spontan eingestellt hatte. Sie hatten seinen Aufgabenbereich nie genauer definiert, aber Marcel erhöhte seinen Lohn im gleichen Maße, wie auch seine Verantwortung und der Preis des Baguettes stiegen. Hier waren ihre Kinder Johnny, Eddy und Sylvie aufgewachsen. Als die drei selbstständiger wurden, hatte Marcel Ginette eine Stelle im Lager gegeben. Als Verantwortliche für den Warenein- und -ausgang. Und so waren die Jahre vergangen, ohne das Ginette Muße gehabt hätte, sie zu zählen.
    Wieder klopfte es an der Tür.
    »Moment noch!«, rief sie und konzentrierte sich auf das blubbernde Wasser über dem schwarzen Pulver.
    »Lass dir Zeit! Ich bin’s nur!«, antwortete Marcels Stimme.
    Marcel? Was wollte der denn in aller Herrgottsfrühe hier?
    »Gibt es ein Problem? Hast du die Büroschlüssel vergessen?«
    »Ich muss mit dir reden!«
    »Moment«, wiederholte Ginette, »ich brauch noch eine Minute.«
    Sie goss das restliche Wasser langsam über das Kaffeepulver, stellte den Wasserkocher ab und trocknete sich die Hände.
    »Ich warne dich, ich bin noch im Morgenmantel!«, rief sie, bevor sie öffnete.
    »Scheißegal! Und wenn du nur ’nen String anhättest, würd ich’s nicht merken!«
    Ginette öffnete, und Marcel kam herein. Auf seinem Bauch balancierte er Junior.
    »Das ist ja mal ein Besuch! Gleich zwei Grobzs vor der Tür!«, rief Ginette und winkte Marcel herein.
    »Ach, Ginette!«, brummte Marcel. »Es ist so furchtbar … Es hat uns eiskalt erwischt! Wir haben nichts kommen sehen!«
    »Was hältst du davon, ganz vorne anzufangen? Sonst versteh ich nur Bahnhof!«
    Marcel ließ sich mit Junior nieder und griff nach einem Stückchen Brot, das er dem Kind in den Mund schob.
    »Los, mein Junge … Arbeite ein bisschen an deinen Zähnen, während ich mit Ginette rede …«
    »Wie alt ist der kleine Schatz denn jetzt?«
    »Er feiert bald seinen ersten Geburtstag!«
    »Nicht zu fassen, er sieht viel älter aus! Was für ein kräftiges Kerlchen! Aber wieso bringst du ihn mit zur Arbeit?«
    »Ach! Frag nicht! Frag einfach nicht!«
    Niedergeschmettert wiegte er den Kopf hin und her. Er war unrasiert, und auf dem Revers seines Jacketts glänzte ein Fettfleck.
    »Doch, genau das tue ich. Los, raus mit der Sprache.«
    »Weißt du noch, wie glücklich ich war, als Josiane und ich das letzte Mal bei euch zum Essen waren?«, begann er mit kummervollem Blick.
    »Kurz vor Weihnachten? Du hast uns so lang und breit davon vorgeschwärmt, dass es uns fast zu den Ohren rauskam!«
    »Ich platzte fast vor Glück! Wenn ich morgens im Büro ankam, bat ich René, mich ins Ohr zu beißen, nur um mich zu vergewissern, dass ich nicht träume.«
    »Du wolltest sogar ein Babystühlchen in dein Büro stellen, um den Kleinen ins Geschäft einzuführen!«
    »Das waren die guten alten Zeiten, da waren wir noch glücklich. Aber jetzt …«
    »Jetzt sehen wir euch überhaupt nicht mehr. Ihr seid ganz unsichtbar geworden!«
    Hilflos breitete er die Arme aus. Schloss die Augen. Seufzte. Das Baby kippte zur Seite, er fing es auf und begann es mit seinen kräftigen, rot behaarten Händen durchzuwalken. Immer wieder drückte er die Finger in Juniors kleinen runden Bauch, was dieser mit

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