Der langsame Walzer der Schildkroeten
nutzt sich ab, aber der Schmerz bleibt lebendig. Er verschwindet nicht. Obwohl man irgendwann aufhört zu lieben, hört man nie auf zu leiden. Das Leben ist einfach Murks!«
Da bin ich mir nicht so sicher, dachte Joséphine, das Leben verknüpft Ereignisse auf eine Weise, wie es die Fantasie niemals wagte. An diesen Tag würde sie noch lange zurückdenken. Was hatte das Leben ihr damit sagen wollen? Wach auf, Joséphine, du döst vor dich hin. Wach auf oder: Lass dir nicht länger alles gefallen?
»Ich habe nichts mehr. Ich bin ein Nichts. Mein Leben ist zu Ende, Jo. Zerstört. Vernichtet. Reif für den Müll.«
Joséphine sah die Furcht in den Augen ihrer Schwester, und ihr Zorn verflog. Iris zitterte und hatte verzweifelt die Arme um ihren Oberkörper geschlungen.
»Ich habe Angst, Jo. So schreckliche Angst … Er hat gesagt, er würde mir Geld geben, aber Geld ist doch nicht alles. Geld hat mich noch nie glücklich gemacht. Eigentlich komisch, wenn man darüber nachdenkt. Alle kämpfen dafür, immer mehr Geld zu haben, und wird die Welt dadurch besser? Geht es den Menschen besser? Singen sie draußen auf der Straße? Nein. Geld macht einen niemals zufrieden. Man findet immer jemanden, der mehr hat als man selbst. Vielleicht hast du ja recht, und die Liebe ist tatsächlich das Einzige, was einen Menschen wirklich ausfüllt. Aber wie lernt man zu lieben? Weißt du das? Alle reden darüber, aber niemand weiß, was es wirklich ist. Du predigst ständig, dass man lieben soll, lieben, aber wie lernt man das? Sag es mir.«
»Indem man sich vergisst«, antwortete Joséphine leise. Sie war entsetzt über den Zustand ihrer Schwester, die sich unaufhörlich nachschenkte und wirres Zeug redete.
Iris lachte sarkastisch.
»Noch so eine Antwort, mit der ich nichts anfangen kann! Es scheint fast so, als machtest du das absichtlich. Kannst du nicht einfach so reden, dass man dich versteht?«
Sie wiegte den Kopf hin und her, spielte mit ihren Haaren, drückte prüfend eine Strähne zwischen den Fingern, rollte sie auf, entrollte sie wieder, hielt sie sich vors Gesicht.
»Wie auch immer, jetzt ist es ohnehin zu spät, es noch zu lernen. Es ist für alles zu spät! Ich bin am Ende. Ich kann nichts. Und ich werde einsam und allein enden … Eine alte Frau wie die, die man draußen auf der Straße sieht. Habe ich dir von der Bettlerin erzählt, der ich vor Jahren begegnet bin? Damals war ich noch jung, und ich bin nicht stehen geblieben, weil ich den Arm voller Päckchen hatte. Sie saß da im Regen auf dem Bürgersteig. Die Leute liefen gegen sie, und sie machte sich immer kleiner, um nicht zu stören …«
Sie schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.
»Warum denke ich die ganze Zeit an diese Bettlerin? Ständig sehe ich sie vor mir, und dann sitze ich plötzlich an ihrer Stelle auf der Straße, strecke die Hände nach Passanten aus, die mich nicht ansehen. Glaubst du, ich werde eines Tages so enden?«
Joséphine betrachtete sie und versuchte herauszufinden, wie viel von ihrer Furcht echt war. Du Guesclin, der zu ihren Füßen lag, gähnte so herzhaft, dass er sich beinahe den Unterkiefer ausrenkte, und schaute sie an. Er langweilte sich. Er fand Iris jämmerlich. Ihr kam der Wahlspruch des echten Du Guesclin in den Sinn: »Mut verleiht das, was Schönheit verweigert.« Im Grunde, dachte Joséphine, mangelt es ihr einfach nur an Mut. Sie träumt von einer vorgefertigten Lösung. Von einem Glück, in das sie nur noch hineinzuschlüpfen braucht wie in ein Abendkleid. Sie sieht sich als Prinzessin und wartet auf ihren Prinzen. Er soll ihr Leben in die Hand nehmen, und sie braucht nichts dafür zu tun. Sie ist feige und faul.
»Komm jetzt, du musst schlafen …«
»Du wirst doch immer da sein, Jo, nicht wahr, du lässt mich nicht im Stich? Wir werden zusammen alt wie zwei kleine runzlige Äpfel … Sag Ja, Jo. Sag Ja.«
»Ich lasse dich nicht im Stich, Iris.«
»Du bist lieb. Du warst schon immer lieb. Das war deine Trumpfkarte, dein liebes Wesen. Und deine Ernsthaftigkeit. Alle haben immer gesagt, ›Jo, die ist ein fleißiges Mädchen, ein ernsthaftes Mädchen‹, und ich hatte alles andere. Aber wenn man sich darum nicht kümmert, geht das alles irgendwann in Rauch auf … Im Grunde ist das Leben ein Kapital, verstehst du? Ein Kapital, das du Gewinn bringend einsetzt oder eben nicht … Und ich habe nichts Gewinn bringend eingesetzt, ich habe alles verschleudert!«
Ihre Stimme klang belegt. Sie ließ den Kopf auf den
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